Erstellt am: 26. 8. 2009 - 16:12 Uhr
"Irgendwann war alles, wie ein Spiel für mich"
Sophia Weyringer
2009
Sonntagvormittag. Ich stehe auf dem Parkplatz und frage mich, wie es dort wohl vor 20 Jahren ausgesehen hat. Wohl kaum anders, außer dass statt der Raststation ein Intershop am Ende des Parkplatz gewesen sein soll.
Genau dort auf dem Parkplatz vor der Raststation sollte vor 25 Jahren für den DDR-Bürger Marco A. ein neues Leben beginnen. Am 26. Oktober 1984 ist der damals 18-jährige Marco auf den Mann getroffen, der ihn in den Westen schleusen sollte.
"Ich schau mich um und sehe nur Ruinen.
Vielleicht liegt es daran, dass mir irgendetwas fehlt
[.…]
und ich warte auf die Frage, auf die Frage wohin.
Was ich haben will, das krieg ich nicht und
was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht."
(Fehlfarben - "Paul ist tot", 1980)
Sophia Weyringer
1984 Vor Der Flucht
* Name von der Redaktion geändert
Es ist ein grauer und kühler Oktobertag im Jahr 1984 als Marco zu seinem Schulfreund Peter* in den Trabant steigt und am Beifahrersitz Platz nimmt. An sich nichts unübliches, da die beiden Freunde immer wieder mal mit dem Auto unterwegs sind. Doch an diesem Tag - ein Freitag - soll ihre Fahrt weiter weg führen als nur durch die Straßen von Berlin. An diesem Tag will Marco aus der DDR flüchten und Peter soll ihm dabei helfen und ihn zum Ausgangspunkt seiner Flucht bringen.
Marco ist gerade mal 18 Jahre alt und hat soeben eine Lehre zum Gas- und Wasserinstallateur abgeschlossen. Die Perspektive, von nun an ein weiteres Regimegetreues und Regimefolgsames Leben in der DDR zu fristen, erfüllt ihn mit Abscheu. Er will mehr als ein Leben zwischen geblümten Dederon-Einkaufsbeutel, sozialistischen Hymnen und Urlaub zwischen Ostsee und Balaton.
Wie so viele andere, fühlt auch Marco sich in der DDR eingesperrt.
Er will raus und vor allem wissen, welche Welt hinter der großen grauen Mauer liegt. Also trifft er sich häufig mit seinen Freunden und geht "rüber schauen". Oft sitzt er so stundenlang in einem Haus am Grenzübergang Bornholmer Straße und schaut in den Westen. Was er sieht, ist eigentlich nicht viel anders als das, was er täglich in der DDR vor Augen hat. Häuser, Autos, Menschen in den Straßen... Der große Unterschied ist allerdings - diese Menschen bewegen sich für Marco in Freiheit.
Als dann auch noch ein Einberufungsbefehl der Nationalen Volksarmee ins Haus flattert, reicht es ihm endgültig und er beschließt aus der DDR zu flüchten.
Ein Freund, der kurz zuvor in den Westen geflüchtet ist, verspricht ihm dabei zu helfen. Dieser schlägt ihm vor sich doch nach West-Deutschland schleusen zu lassen, denn im Kofferraum eines Autos waren schon viele zuvor erfolgreich in den Westen geflüchtet. Für Marco klingt das nach einem guten Plan. Das Risiko allerdings ist groß. Wird man geschnappt, bedeutet das für alle Beteiligten eine Gefängnis- oder Zuchthausstrafe von bis zu fünf Jahren. Ganz abgesehen davon bedeutet auf der Flucht zu sein sich in Lebensgefahr zu begeben. Aber darüber macht sich Marco keine Gedanken. Auf welchem Weg auch immer, Hauptsache raus.
"Die Schatten der Vergangenheit.
Wo ich auch geh da sind sie nicht weit.
Ich weiß nicht einmal, wer ich bin
[…]
Die zweite Hälfte des Himmels könnt ihr haben.
Das Hier und Jetzt das behalte ich."
(Fehlfarben - "Hier & Jetzt", 1980)
Marco A.
Im Vertrauern darauf, dass alles gut gehen wird, beginnen die Fluchtvorbereitungen. Zuerst muss Marco sich mit einem Kurier treffen, der ihm den genauen Fluchtplan erklären soll. Damit ihn dieser auch erkennt, schickt Marco ein Passfoto nach West-Berlin – "geschmuggelt" von der Oma seines Freundes.
Größte Vorsicht ist geboten, damit die Stasi nicht Wind von der Sache bekommt und sie alle festnimmt. Marco telefoniert deswegen mit seinem Freund in Westberlin nur von öffentlichen Telefonzellen aus. Was Marco damals jedoch nicht weiß ist, dass ihm die Stasi schon längst an den Fersen klebt und jeden seiner Schritte genau dokumentiert. So auch das erste Treffen mit dem Kurier.
Hier ein gekürzter Auszug aus den Stasi-Akten, die Marco 1995 zum ersten Mal gelesen hat:
Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) bemüht sich seit 1990 um die Sicherung der Unterlagen der Stasi und ermöglicht ehemaligen DDR-Bürgern den Zugang zu ihren Stasi-Akten.
16.10.1974 17:00 Uhr
Treffpunkt U-Banhhof Senefelderplatz am Bahnsteig Richtung Alexanderplatz.
M. A. wurde von einer jungen Frau angesprochen und ging mit ihr in ein Café zur Übergabe der Fluchtinstruktionen.
1. soll sich M. A. zum Intershop bringen lassen
2. 19.10.1984 Intershop Storbeck um 16:30 Uhr
3. Im Intershop wird A.M. dann von einem Mann mit einem gelben „D“ vorne auf der Jacke angesprochen, das wir der Schleußer sein.
M.A. gab dem weiblichen Kurier ein Passfoto von sich und bekam im Gegenzug 150 DM um den Transport zum Intershop bezahlen zu können.
Des weiteren wurde M.A. aufgefordert sich westlich zu kleiden.
Marco A.
Das westliche Outfit ist wichtig, damit Marco am Treffpunkt auf der Transitstrecke zwischen Ost- und Westdeutschland nicht als DDR Bürger auffällt.
Zwei Tage nach dem Treffen soll es losgehen. Weil Marco keinen Führerschein hat, bittet er einen alten Bekannten, ihn zum Startpunkt seiner Flucht zu fahren. Er wendet sich an Thomas (Name von der Redaktion geändert). Dass Thomas ein Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi ist und derjenige ist, der Marco und seinen Fluchtplan schon längst verraten hat, hätte sich Marco zu diesem Zeitpunkt nicht gedacht:
"Ganz ehrlich, wir haben uns nie wirklich Gedanken gemacht, ob um uns Leute waren, die uns für die Stasi belauscht oder bespitzelt haben. Ich hab mich auch nie bespitzelt gefühlt und letztendlich haben wir ja auch nichts gemacht außer den Blödsinn den man halt so macht, wenn man jung ist. Aber nichts subversives, wie die Stasi schreibt."
Die Stasi ist bestens über jeden von Marcos Schritte informiert.
Hier ein weiterer Auszug aus der Stasi-Akte zu Marcos Flucht. Die Namenskürzel zu Marcos Freunden wurden von der Redaktion in P. und T. geändert.
18.10. 1984
Erneute Meldung des IMK an das MfS über die geplante Flucht des M.A. in die BRD
Treffpunkt in der "Tute 2" (Posthorn) um 19.00 Uhr zum Besprechen der Flucht. Dabei waren M.A., P. und T.
M.A. schenkte P. seinen Grundig Kassettenrekorder, da er dachte, er brauche diesen nicht mehr und schlief in der Nacht vom 18. zum 19.10.1984 bei P., da am nächsten Morgen um 12.00 Uhr von dieser Wohnung gestartet werden sollte.
Die Flucht
Am 19. Oktober 1984 brechen Marco, Peter und Thomas gegen Mittag in Richtung Storbeck auf. Hinter ihnen die Stasi.
Der erste Fluchtversuch scheitert, weil sie fälschlicher Weise im Ort Storbeck und nicht am Parkplatz der Raststation Storbeck auf den Schleuser warten. Dennoch will Marco es eine Woche später noch mal probieren.
Doch von nun an ist es offensichtlich, dass die Stasi ihn nicht mehr aus den Augen lässt. Wohin er auch geht, graue Männer und Frauen umgeben ihn - teilweise schlecht getarnt als Passanten. Manchmal nicht weiter als 30 Zentimeter von ihm entfernt. Und dennoch - Marco wagt den 2. Fluchtversuch.
Der Treffpunkt mit dem Schleuser ist diesmal klar. Allerdings soll ihn nun sein Schulfreund Peter mit dem Auto dorthin bringen.
"Es war dann ein Stück weit fast, wie ein Spiel für uns, die Stasi auszutricksen", erzählt Marco. Ein Spiel, das allerdings die Stasi gewinnt: Als Marco am Fluchttag mit einer grünen Bomberjacke und Jeans bekleidet in den Trabanten seines Freundes steigt, folgen ihnen die geheimen Agenten der Stasi. Jeder Schritt wird bis ins Detail notiert.
26.10.1984 2. Fluchtversuch
M.A. und P. treffen sich und fahren wie vereinbart nach Storbeck. Da sie schon um 14.30 Uhr ankommen und viel zu früh sind, fahren sie weiter zur Abfahrt Herzsprung und halten sich eine Weile im Wald auf.
16.30 Uhr dann pünktliches Eintreffen der Beiden auf dem Parkplatz des Intershops Storbeck.
P. wird von M.A. aufgefordert bis 17.10 Uhr zu warten, falls wieder etwas schief gehen sollte. M.A. überlässt P. sein Facharbeiter Zeugnis, seinen Personalausweis, den SV-Ausweis und die Wohnungsschlüssel der Eltern, damit er dies alles zurückgeben konnte.
M.A. trifft sich um 16.35 Uhr mit den Schleuser im Intershop. Sie verständigen sich durch Zeichen. Der Schleuser gibt M.A. zu verstehen, dass er in sein Auto einsteigen soll. M.A. wird erklärt, dass er in den Kofferraum umsteigen müsse, dazu würde er zwei Minuten von der Autobahn herunter fahren. M.A: solle sich dann im Kofferraum ruhig verhalten, die Fahrt würde danach in Richtung Hamburg weiter gehen.
Kati Zöhrer
Hamburg erreichen sie nicht. Als der Schleuser nach gut 45 Minuten von der Autobahn abfährt, werden sie von der Volkspolizei gestoppt und verhaftet. So endet Marcos Traum von der Reise in den Westen auf der Transitstrecke zwischen Berlin und Hamburg.
Anstatt am Ende des Tages auf der anderen Seite der Mauer zu stehen, verbringt er die nächsten 12 Monate in der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen, bis er von der der Bundes Republik Deutschland (BRD) als politischer Häftling freigekauft wird.
Marco A.
1989-2009
Der Schwerpunkt auf FM4
Heute – ein viertel Jahrhundert später – lebt Marco immer noch in Berlin. Nüchtern und fast emotionslos schaut er auf diese Geschichte zurück.
Er hat damit abgeschlossen. Wer noch aller mit der Stasi verstrickt war, will er gar nicht wissen. Wer sein Verräter war, hat er erst knappe 10 Jahre nach seiner Flucht erfahren.
"Ich sehe das ganze jetzt so als ein Stück Zeitgeschichte. Spannend und irgendwie schön, dass ich das selbst erlebt habe."
Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: "Ja, ich würde alles noch mal genauso machen."