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Mari Lang

Moderiert, beobachtet und probiert aus – neue Sportarten, Bücher und das Leben in der Ferne. Ist Ungarn-Fetischistin.

25. 8. 2009 - 14:13

Sich erinnern, um zu vergessen

Eine Flucht in den Westen: mit dem Zug, per Anhalter und mit eigener Kraft durch die Donau. Der ehemalige DDR-Bürger Jürgen Hemmann erinnert sich.

1989-2009
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Nachdenklich steht er am Wasser und fixiert die Wellen der Donau, die ruhig an dem südslowakischen Ort Patince vorbei fließt. Ein Mann Mitte 50. Schütteres Haar, kleines Bäuchlein, ein zufriedenes Lächeln im Gesicht.

donau mit ufer

jürgen hemmann

Vor 20 Jahren stand Jürgen Hemmann auch schon hier. Gelächelt hat er damals aber nicht. Er war unruhig, voller Angst und müde. Viele Stunden war er schon unterwegs gewesen – von Torgau in Ostdeutschland mit dem Zug nach Prag, weiter per Autostopp nach Bratislava und zu Fuß durch Wälder und Wiesen. Die Füße voller Blasen. Ein rothaariger Mann in seinen Dreißigern. In Jeans, einer Tarnjacke und mit einer Reisetasche in der Hand.

Sein Ziel war Ungarn, und von dort weiter nach Westdeutschland. "Ich wollte endlich frei sein. Ich wollte reisen und das sagen dürfen, was ich mir denke." Hemmann wollte neu anfangen, genauso wie tausend andere Ostdeutsche, die im September 1989 ihre Heimat verließen. Schon davor hatten es viele versucht, doch die Entscheidung der ungarischen Regierung am 10. September die Grenze zu Österreich für DDR-Bürger zu öffnen, löste eine wahre Fluchtwelle aus. Aus Urlaubern wurden illegale Grenzgänger, aus Familienvätern, wie Jürgen Hemmann, Männer, die um ihr Leben schwammen.

feldweg mit wiesenrand

jürgen hemmann

Fußmarsch in Richtung Donau

Weil er gehört hatte, dass an der slowakisch-ungarischen Grenze alle Autos kontrolliert und DDR-Bürger verhaftet wurden, blieb ihm nur noch die Donau nahe Patince in der Südslowakei. "Sie können sich nicht vorstellen, wie oft ich da rein und wieder raus bin. Aber zurück wollte ich auf keinen Fall", sagt er heute mit zittriger Stimme. Also schwamm er zwischen Schiffen und kleinen Motorbooten hindurch, voller Sorge von einem Grenzboot entdeckt zu werden. Kiesarbeiter halfen dem erschöpften Ostdeutschen auf ungarischer Seite aus dem Wasser. Sie gaben ihm Hühnersuppe und erzählten mit Händen und Füßen, dass die Polizei sie beauftragt hätte alle Flüchtlinge auszuliefern. Doch stattdessen drückten die Arbeiter Hemmann Geld und einen trockenen Blaumann in die Hand und wiesen ihn an zur deutschen Botschaft nach Budapest zu fahren.

alter mann im blaumann

jürgen hemmann

Fluchthelfer Gyula Sági

Mit Gyula Sági, einem seiner Helfer, ist der ehemalige Flüchtling bis heute in Kontakt. Vor fünf Jahren hat er den mittlerweile pensionierten Arbeiter aus Dunaalmás das erste Mal besucht. "Gleich danach ging es nicht. Ich war froh, dass es vorbei war und damit beschäftigt mir was Neues aufzubauen. Erst nach 15 Jahren konnte ich mich wieder bewusst an die Zeit von damals erinnern", erzählt Hemmann, der vor einigen Wochen wieder in Ungarn war.

Auf einer Reise zurück in die Vergangenheit

Mit dem Auto fährt er noch einmal seine gesamte Fluchtstrecke von damals ab – Prag, Bratislava, Budapest und die kleinen Orte dazwischen. Am Donauufer nahe dem slowakischen Patince, wird ihm erneut bewusst, wie viel Glück er im September 1989 eigentlich gehabt hat. Er hätte, so wie einige der Männer, die nur wenige Tage nach ihm versucht hatten die Donau zu durchschwimmen, ertrinken können. Oder er hätte von der slowakischen Grenzwache aufgespürt und möglicherweise erschossen werden können. Kein unwahrscheinliches Szenario, denn die Soldaten waren ihm damals dicht auf den Fersen. Doch das erfährt Jürgen Hemmann erst jetzt, durch Zufall, als er seiner Lebensgefährtin die Stelle an der Donau zeigt, an der er durchgeschwommen ist. "Stellen Sie sich vor. Plötzlich kommt ein älterer slowakischer Herr auf uns zu. Und wissen Sie, was der sagt? Dass er 1989 Grenzer war und am selben Tag, als ich hier durch die Donau durch bin, mit seinen Kollegen nach einem Flüchtling gesucht hat. Das ist doch Wahnsinn. Ich hab so ein Glück gehabt."

Irgendjemand muss den ehemaligen DDR-Bürger vor 20 Jahren verraten haben. Die nette Dame am Feld, die den Weg zur Donau beschrieben hatte oder die jungen Männer, die Hemmann mit dem Auto mitgenommen hatten? Bespitzelung und Misstrauen waren im kommunistischen System jedenfalls keine Seltenheit. Auch in der deutschen Botschaft in Budapest, die Jürgen Hemmann schließlich am 15. September 1989 erreichte, war die Angst vor Spitzeln noch groß.

altes foto von flüchtlingslager in budapest/zugliget. zelt und menschen

mari lang

Das Flüchtlingslager am Zugliget in Budapest im Sommer 1989

Schon im August, als die Zahl der DDR-Flüchtlinge in Budapest immer größer wurde, eröffnete der Malteser-Orden rund um Pfarrer Imre Kozma und Csilla von Boeselager in den Budaer Bergen ein Flüchtlingslager. Die westdeutsche Botschaft wurde kurzerhand dorthin verlegt. Im Haus gegenüber hatte sich die Stasi einquartiert und ein Fernrohr auf das Eingangstor gerichtet, und manchmal kam es vor, dass sich Geheimpolizisten ins Lager einschleusten und Personalausweise stahlen. Denn ohne diese war eine Ausreise aus Ungarn nur schwer möglich. "Die Anspannung im Lager war groß. Die Menschen waren erschöpft, aber in Sicherheit", erzählt Jürgen Hemmann. Erst als der Bus kam, der die Ostdeutschen über die österreichische Grenze bringen sollte, konnten die Flüchtlinge aufatmen. "Dann wusste man, dass man es tatsächlich geschafft hatte."

schwarzes eisentor

mari lang

An dieses Gefühl erinnert sich der ehemalige DDR-Flüchtling, als er heute vor der Kirche in der Szarvas Gábor Straße in Budapest steht. Die letzte Station seines heurigen Urlaubes, den er ganz seiner damaligen Flucht gewidmet hat. Lange blickt er auf das schwarze Eisentor und den Garten dahinter. Hier war er vor 20 Jahren mit tausenden anderen Ostdeutschen, die von einer besseren Welt träumten. "Es schaut noch genauso aus wie damals", sagt Jürgen Hemmann mit leiser Stimme. "Nur dass hier mehr Autos auf der Straße geparkt haben." Heute wirkt die Szarvas Gábor Straße, in einer der nobleren Gegenden von Budapest, fast verlassen. Im Hof des ehemaligen Flüchtlingslagers steht ein alter Trabi, der an damals erinnern soll. Daneben ein Denkmal, das zwei sich umarmende Menschen auf einem zerbrochenen Sockel zeigt. Darüber steht "Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen."

2 männer schauen sich fotos in einer ausstellung an

mari lang

Eine Ausstellung am Gelände des ehemaligen Flüchtlingslagers zeigt Bilder und Zeitungsausschnitte von damals. Rechts: Jürgen Hemmann

Während viele Flüchtlinge von damals den Sommer 1989 verdrängt haben und nichts mehr damit zu tun haben wollen, ist er für Jürgen Hemmann noch nicht ganz vorbei. Er wird nicht müde Danke zu sagen und über seine Erlebnisse zu reden. Vor fünf Jahren hat er eine Website eingerichtet, auf der er seine Fluchtgeschichte nacherzählt und ehemalige DDR-Flüchtlinge dazu aufruft, mit ihm in Kontakt zu treten. "Denn diese Zeit war etwas ganz Besonderes". Und deshalb wird er am 16. September wieder eine Flasche Sekt öffnen und auf das Wohl derer trinken, die ihm damals geholfen haben. Er wird sich wieder und wieder erinnern, um irgendwann vergessen zu können.