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Mari Lang

Moderiert, beobachtet und probiert aus – neue Sportarten, Bücher und das Leben in der Ferne. Ist Ungarn-Fetischistin.

20. 8. 2009 - 12:09

"Ich bin kein Held"

Vor 20 Jahren flüchteten hunderte DDR-Bürger über Ungarn in den Westen. Einer der es möglich machte, ist der Grenzsoldat Árpád Bella.

An klaren Tagen sieht man von seinem Bauernhaus im ungarischen Csapod bis zum Schneeberg, der für Árpád Bella das Synonym für Freiheit geworden ist. Dort war der ehemalige Grenzsoldat aber noch nie. Obwohl er schon an so vielen Orten der Welt gewesen ist. Am 19. August 1989 war er am richtigen oder am falschen Ort - je nachdem, wie man es sieht.

Sopron

FM4/Mari Lang

Es ist ein heißer Sommertag, als der 43-jährige Grenzwächter Árpád Bella mit Kollegen an die ungarisch-österreichische Grenze fährt. Zwischen Sopron und St. Margarethen im Burgenland soll ein Friedensfest veranstaltet werden - das Paneuropäische Picknick, organisiert von der demokratischen Opposition in Ungarn und Österreichern rund um Otto Habsburg. Dabei soll Speck gebraten und über die Zukunft Europas diskutiert werden. Außerdem soll ein kleines Grenztor symbolträchtig für einige Stunden geöffnet werden - für österreichische und ungarische Staatsbürger, die im Gegensatz zu den meisten Ostblock-Bürgern seit 1988 Reisefreiheit haben.

Picknick und Hochzeitstag ohne Feierlaune

Er werde, wie gewohnt, am frühen Abend nach Hause kommen, sagt Árpád Bella am Morgen des 19. August 1989 zu seiner Frau. Dann könnten sie ihren gemeinsamen Hochzeitstag feiern. Bei einem gemütlichen Abendessen mit den zwei kleinen Töchtern und einem Glas Wein. Nach feiern ist dem Grenzbeamten am Nachmittag dann aber nicht mehr zumute. In seiner frisch gebügelten Uniform und der weißen Dienstmütze steht er am Grenztor und bespricht letzte Details mit dem österreichischen Kommandanten. Plötzlich hört er Stimmen und sieht von ungarischer Seite eine Menschengruppe geradewegs auf sich und das Tor zusteuern. Frauen, Männer und Kinder. Dass das nicht die Delegierten des Picknicks sein können, sondern Ostdeutsche, die fliehen wollen, wird ihm rasch klar. "Ich habe mich wie eine Maus in der Falle gefühlt", sagt er heute, 20 Jahre später. "Aber ich wusste, wenn ich versuche sie aufzuhalten, kommt es zu Blutvergießen. Und das wollte ich auf keinen Fall." Also befiehlt Árpád Bella seinen Kollegen zur Seite zu treten und die Flüchtlinge durchzulassen.

Tausende Ostdeutsche befinden sich im Sommer 1989 in Ungarn. Denn seit im Mai mit dem Abbau der Grenzanlagen in Richtung Österreich begonnen wurde, hoffen viele auf eine Gelegenheit zur Flucht.

Mehr als 600 DDR-Bürger schaffen es in den darauffolgenden Stunden die Grenze zu überqueren - teilweise nur mit Plastiksackerln und Rucksäcken in der Hand. Ihre Autos und Koffer lassen sie in Ungarn zurück. Die Freiheit ist in dem Moment wichtiger.

Sopron

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Árpád Bella wühlt in seinem Haus in Csapod in Erinnerungen

Die Bilder der Flüchtlinge haben sich in das Hirn des ehemaligen Grenzsoldaten eingebrannt. "Sie waren so glücklich, als sie endlich drüben waren. Sie haben gelacht und geweint - die Spannung unter ihnen war wahnsinnig groß." Doch auch im Hause Bella ist die Spannung am Nachmittag des 19. August 1989 enorm. Árpád Bellas Frau, die inzwischen verstorben ist, sitzt mit ihren Töchtern vor dem Fernseher.

Sopron

FM4/Mari Lang

Sie schauen das österreichische Programm und sehen ihren Ehemann und Vater auf dem Bildschirm - ihn, der eigentlich Lehrer oder Ornithologe werden wollte und nur durch die Überredungskünste eines Freundes zum Militär gekommen ist. Ihn, der immer von abenteuerlichen Stunden in der Natur und Pferdepatroullien geträumt hat und schließlich bei der Passkontrolle in Sopron gelandet ist. Ihn, der die Gewalt hasst, obwohl eine Pistole an seinem Hosenbund baumelt. Die Angst, dass Árpád Bella etwas zustößt, ist in seiner Familie riesengroß, ebenso wie die Angst vor den Folgen dieses geschichtsträchtigen Tages.

"Was wird jetzt bloß aus uns werden?, haben sie gefragt."

Árpád Bella hat, indem er die DDR-Flüchtlinge beim Picknick über die Grenze ließ, ganz klar einen Dienstbefehl missachtet, und darauf standen damals bis zu fünf Jahre Haft. Passiert ist jedoch nichts. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt. "Alles wurde unter den Teppich gekehrt," erzählt der ehemalige Grenzwächter heute mit fester Stimme. "Für mich persönlich war das alles schwierig. Manche Kollegen haben mich plötzlich gemieden und nicht mehr mit mir gesprochen." Gesprochen wurde über die Ereignisse des 19. August 1989 in Ungarn sowie in der Familie Bella generell nicht mehr viel. Man versuchte sie zu vergessen. Doch wie es zu dieser Massenflucht kommen konnte, darüber dachte Árpád Bella lange nach, und auch Historiker haben sich mit dieser Frage beschäftigt. "Von diesem Flüchtlingsstrom, der sich am Tag des Picknicks in Richtung Sopron bewegt hat, hätte doch jemand wissen müssen", meint der ehemalige Grenzsoldat.

Andreas Oplatka:
Der erste Riss in der Mauer.
September 1989 - Ungarn öffnet die Grenze.
Zsolnay 2009

Die Regierung in Budapest hätte die Massenflucht der DDR-Bürger am 19. August 1989 bewusst herbeigeführt, schreibt der Historiker Andreas Oplatka in seinem empfehlenswerten Buch "Der erste Riss in der Mauer". Reformfreudige ungarische Politiker hätten das Picknick instrumentalisiert und die Sowjetmacht testen wollen. Die eigenen Grenztruppen wurden in diesen Plan jedoch nicht eingeweiht, Beamte wie Árpád Bella wurden quasi zum Spielball der Politik. "Ich habe von nichts gewusst", betont der heute 64-jährige Grenzer immer wieder. "Der Plan hätte auch schief gehen können." Nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn nicht Árpád Bella, dem die Menschen immer wichtiger waren als ein Dienstbefehl, beim Grenztor in der Sopronpuszta gestanden wäre.

Sopron

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Árpád Bella (links außen) in jungen Jahren an der ungarisch-österreichischen Grenze

1989-2009
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Als Held will Árpád Bella nicht bezeichnet werden. "Ich habe das für mein Vaterland getan", sagt er und fügt doch etwas bitter hinzu, "aber wie mit den Ereignissen im Nachhinein umgegangen worden ist, schmerzt mich".

Zwei Jahre nach dem Paneuropäischen Picknick ist der Grenzsoldat nach Budapest versetzt worden. Ein paar Jahre später, mit 51 Jahren, in Frühpension geschickt. Einer seiner Vorgesetzten, der laut Bella beim Picknick nicht anwesend war, wurde vom Staat für seine "humanitäre Leistung" am 19. August 1989 ausgezeichnet.

Erst 1999 bekommt auch Árpád Bella, die Anerkennung, die er verdient. Der ungarische Präsident verleiht ihm den Verdienstorden der Republik. Und während 2009 an der ungarisch-österreichischen Grenze das Unkraut wuchert und kaum einer mehr an Stacheldrähte denkt, interessiert sich plötzlich die ganze Welt für ihn. Journalisten aus England, Frankreich und Schweden besuchen den ehemaligen Grenzsoldaten in seinem kleinen Bauernhaus in Csapod und wollen seine Geschichte hören. Die eines mutigen Mannes, der zur Seite getreten ist und damit rund 600 DDR-Flüchtlingen die Freiheit ermöglicht hat. Árpád Bella schaut nachdenklich aus dem Fenster in Richtung Schneeberg, den er jetzt irgendwann mal besteigen wird und meint "man kann es sich nicht aussuchen, aber wahrscheinlich war ich 1989 am richtigen Ort."