Erstellt am: 18. 8. 2009 - 21:56 Uhr
Journal '09: 18.8.
Erster Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs: LA-WM samt Doping.
Zweiter Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs; Gentrifizierung und Lokal-Patriotismus.
Der dritte Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs: Die, die sich niemals an den Westen verkaufen werden: eisern Union.
Der vierte Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs: A lightning that might strike. Bolt.
Der fünfte Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs: Simulations-Parteien im Wahlkampf.
Der sechste Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs: Das Hemd an sich.
Nachtrag: Kümmernd und zweisprachig.
Ich finde in Wien ja keine Hemden. Also solche, die mir gefallen. Es gibt eine Menge Hemden, allerorten, aber sie sind neu und edel, oder sie sehen nach Faymann oder Petzner aus, oder sie sind im schlimmsten Fall auch noch kurzärmlig wie beim frühen Westenthaler. Selbst die Second-Hand-Hemden, so sie irgendwo zu haben sind (und ich kenne deutlich zuwenige Orte, an denen das vorkommt) können zuwenig - sie sind tendenziell für den Rottenberg'schen Körper geeignet; und der ist mir nicht nur nicht gegeben, ich strebe ihn auch nicht an.
Ich finde also in Wien keine Hemden. Und da ich ein Kleidungsstück probieren muss, um zu wissen ob ich es mag, und nichts auf gut Glück bestellen möchte und weil mir der Begriff der Shopping-Tour im Ausland nicht nur zu großkotzig erscheint, sondern sich aus das Faktum einfach nur dann ergibt, wenn man es anstrebt, hab ich aus dieser Not eine Tugend gemacht und jahrelang keine Hemden getragen.
Deswegen hab ich dann auch aufgehört nach welchen zu stöbern, wenn ich einmal (natürlich nur aus anderen, hehren Gründen) abroad bin, am besten in einer Stadt, weil woanders will man Hemden kaufen.
Salvation Army Blues
Vor etwa einem Jahr ist es dann passiert. Ich stehe in Manhattan, New York, Ecke 24. Straße und 8 Avenue und höre die Stimme des Herrn, der mir befiehlt zehn Schritte zu gehen und in den Salvation Army-Store einzutreten.
Stimmt nicht, aber so würde es ein traditionell amerikanischer Storyteller erzählen; mir erzählen Herren nichts, ich folge Instinkten.
Der Store ist einfach passiert, meine Freundin wollte kramen und ich geh halt mit, und plötzlich sind da zwei Rundständer voller Hemden von genau der Art, wie ich sie haben will: nicht neu, nicht glatt, nicht edel, keine Spur von österreichischen Politikern oder Schlägern, aber auch ohne dieses Cobain/Linklater-Slacker-Gefühl von karierten Flanellhemden.
Es sind einfach Hemden für mich, unterschiedliche Marken, in unterschiedlichen Materialien, in unterschiedlichen Farben und Mustern, schon meist kariert, aber nicht klassisch-gelackt. Und jedes einzelne erzählt eine kleine Geschichte, hat wohl einen oder mehrere Vorträger und ein individuelles Gesicht.
Viele passen mir dann nicht und sind für die Rottenbergs oder Thomas Meineckes, oder ich fühl mich nicht wohl, in der allerersten Sekunde des Drinsteckens. Das ist mein einziges Kriterium.
Ich bin mit sechs Hemden raus aus dem Salvation Army-Store und sie waren mein Grundstock für den seit einem Jahr beinhart umgesetzten Paradigmen-Wechsel meiner Kleidungs-Routine: von Nie-Hemd zu Immer-Hemd (außer an den ganz bösen ganz heißen Tagen, an denen das dünne Shirt genügen muss).
Wiener Linien
Es war nicht so einfach, ihn in Wien zu erweitern. Zum einen, weil mir weiter nichts gefallen hat, ich immer noch überall den Petzner oder gar den Westenthaler rauswachsen sehe. Zum anderen auch, weil dann etwa meine liebe Mutter gutmeinend das genau Falsche tut: ich deute an mich zu Weihnachten durchaus über ein Hemd zu freuen, wenn es a) kariert und b) nichtpolitikerlike wäre. Zweitere Hürde schafft die Mama problemlos, sie scheitert an der ganz einfachen ersten. Die gestreiften Hemden, die sie dann anschleppt, sind an sich schön, keine Frage, aber was, Mutti, war am Kriterium "kariert" so schwer zu verstehen? Ach, sagt sie, die haben mir besser gefallen.
Ich trage sie trotzdem.
Jetzt, vor Berlin, war mir klar, dass ich hier wieder zuschlagen würde müssen. Auch weil ich ja weiß, dass die hiesige Second-Hand-Kultur der unsrigen um Lichtjahre voraus ist.
Und wieder hab ichs nicht erzwungen. Der erste, eh auch zufällige Second-Hand-Stopp am Prenzl. Berg endete in Probierei und Enttäuschung, weil nichts ins Körberl wanderte.
Entschleunigung in Friedrichshain
Und heute, am bereits vorletzten Tag, als ich den Hemdenkauf gar nimmer auf der Rechnung hatte, stolpern wir durch Friedrichshain und in ein entsprechendes Geschäft und da sind sie wieder: zwei Rundständer voller Hemden von genau der Art wie ich sie haben will.
Ich bin mit fünf Beutestücken rausgewachsen.
Sie haben alle eine Geschichte und ein Gesicht.
Und es wird wie im Vorjahr sein: die, die mich beim Anprobieren angesprungen haben, werden verlieren, die, die ich halt auch noch mitgenommen habe, werden sich langfristig als Hits durchsetzen.
Es ist wohl auch kein Zufall, dass das ausgerechnet im verschlafenen Teil von Friedrichshain passiert ist, wo es immer noch langsamer zugeht, als in den restlichen Berliner Zentren, wo der ehemalige Osten sich immer noch weigert jeden Blödsinn, jede schadhafte Einstellung und jeden überkandidelten Dreck, den der Westen in seinem Kolonialisierungswahn so mit sich brachte, einfach hirnlos zu übernehmen.
Gut, der Entschleunigungs-Garten, der ist im Westen drüben, wo Kreuzberg schön langsam zu Treptow wird, aber der ist ja auch extra angelegt worden, um etwas entgegenzuwirken, während die Friedrichshainer das erst gar nicht aufkommen lassen wollen.
Ich denke, dass die neuen Hemden was davon mitnehmen und einbringen werden. Es mag sich gut ergänzen mit dem energetischen Potential, das die Hemden aus der 8th Avenue in sich tragen.
Und vielleicht finde ich ja auch den einen Ort in Wien, an dem sowas möglich ist.