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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

17. 8. 2009 - 14:05

Fremde & seltsame Welten

Notizen zum Animationsmärchen "Coraline" und dem japanischen Kinoexperiment "Love Exposure".

Es war einmal ein erfolgreicher Fantasyautor namens Neil Gaiman, der seiner kleinen Tochter gerne gruselige Storys vor dem Einschlafen erzählte. Das Mädchen liebte diese Gute-Nacht-Geschichten, in denen eine widerspenstige Elfjährige im Mittelpunkt steht, die ein bizarres Fantasiereich entdeckt. Irgendwann entschloss sich der Herr Papa, daraus ein Buch zu machen.

Anfang der Neunziger, als die Abenteuer von "Coraline" erscheinen, verfallen auch Millionen Leser dem aufmüpfigen Miniatur-Riot-Girl, das vom Bravsein wenig hält, vom Raunzen und Herumsudern aber viel. Weichgezeichnete Infantilitäten erspart sich der "Sandman"-Schöpfer Gaiman.

Seit etlichen Jahren schon versucht Henry Selick, der Mann, der zusammen mit Tim Burton den morbiden Weihnachtsspaß "The Nightmare Before Christmas" kreierte, den märchenhaften Bestseller auf die Leinwand zu bringen. Heuer ist es endlich so weit, letzte Woche lief "Coraline" auch bei uns an.

Visuell hat sich die Wartezeit auf jeden Fall ausgezahlt, mit Hilfe klassischer Stop-Motion-Animationstechnik schuf Selick einen höchst charmanten Look, der in einer speziellen 3-D-Fassung besonders zur Geltung kommt.

Coraline

UIP

Besonders gelungen ist die erste, noch mehr in der Realität verankerte Hälfte des Films, in der Selick und Gaiman den modernen Erziehungsalltag aufs Korn nehmen. Wir folgen der blauhaarigen Coraline Jones, kurz nach dem Umzug ihrer Familie in ein altes Landhaus, auf ihren gelangweilten Streifzügen durch die Umgebung.

Weil die überarbeiteten Schriftsteller-Eltern vor den Laptops versacken, nur eintönige Gesundheitskost auftischen und sämtliche töchterlichen Anfragen ignorieren, flüchtet das Kind in eine Parallelwelt, die sich hinter einer zugemauerten Nische verbirgt.

Dort leben andere, scheinbar bessere Erziehungsberechtigte, voller Interesse und Begeisterungsfähigkeit, auf dem Esszimmertisch türmen sich klebrige Leckereien. Auch minderjährige Zuschauer dürften sehr bald ahnen, dass diese Idylle, der sich Coraline hingibt, trügerisch ist. Die toten Knopfaugen der Ersatz-Eltern deuten auf einen Albtraum hin, den Henry Selick genüsslich inszeniert.

Dass dem Regisseur die pittoresken Animationseinfälle im weiteren Verlauf manchmal ein wenig bis an die Nervensägen-Grenze durchgehen, trübte zumindest dem Schreiber dieser Zeilen etwas das Vergnügen. Auch auf die verstaubten Musicaleinlagen, bereits eine Herausforderung in "A Nightmare Before Christmas", hätte ich verzichten können.

Aber egal, diese düster angehauchte "Alice in Wonderland"-Variante ist schon einen Kinobesuch wert. Wer Kinder oder Geschwister im richtigen Alter hat, kommt an dem Film ohnehin genauso wenig vorbei wie diverse Emowuckel (gibt es die noch?) oder Gruftis, die zuhause ihre "Corpse Bride"-Puppen horten.

Coraline

UIP

Für fremde und seltsame (Kino-)Welten steht auch der japanische Independentregisseur Sion Sono, allerdings geht es bei dem Schöpfer von Horrortrips wie "Suicide Circle" oder "Strange Circus" weniger niedlich zu als bei Henry Selick.

Wobei das nicht ganz so stimmt. "Love Exposure", das neueste, höchst ungewöhnliche und preisgekrönte Filmprojekt Sonos, hat auch durchaus putzige Charaktere zu bieten. Die Hauptfigur beispielsweise, der schüchterne Yu, gespielt vom J-Pop-Star Takahiro Nishijima, wirkt am Anfang wie eine zum Leben erwachte Mangafigur.

Dabei hat es der japanische Teenager nicht leicht. Yu lebt nach dem Tod der Mutter alleine mit seinem wortkargen Vater, einem katholischen Priester. Um wenigstens irgendeine Reaktion seines alten Herrn zu provozieren, versucht Yu so viele Sünden wie möglich zu begehen.

Er wird zum Spezialisten für Upskirt-Fotografie, knippst in akrobatischen Verrenkungen Schulmädchen unter den Rock und verkauft die Bilder an Pornofirmen. Dabei ist der kleine Voyeur nur auf der Suche nach der ganz großen Liebe.

Love Exposure

Rapid Eye Movies

Die Sache wird bald kompliziert. Yu beginnt für seine Ausflüge mit der Kamera in Frauenkleidung zu schlüpfen, ausgerechnet das Kostüm der dunklen Leinwand-Rächerin Sasori (die Tarantino-Connection dürft ihr jetzt selber googeln) wählt er dabei.

Als er, in voller Maskerade, bei einer Schlägerei die betörende Yoko trifft, verfällt er der Kung Fu-kämpfenden Schülerin auf der Stelle. Auch das Mädchen verliebt sich, allerdings in die falsche Madame Sasori, den zurückhaltenden Yu verachtet sie. Zusätzlich hat es noch eine eine dubiose Sekte auf die beiden Jugendlichen abgesehen, die zusammen mit ihren Angehörigen in einen bizarren Strudel von Ereignissen gezogen werden.

"Love Exposure", im Original "Ai no mukidashi", vermischt Religion und Perversion, Manga und Martial Arts, Humor und Härte, Sex und Splattermovie-Anklänge, Trashreferenzen und philosophische Einschübe zu einem Kinoexperiment, wie man es nicht alle Tage erlebt.

Knappe vier Stunden dauert die Achterbahnfahrt durch unzählige Genres und Stimmungen, erst ab der Halbzeit tritt die grelle Pop-Romanze manchmal auf der Stelle. Aber für jeden kleinen Durchhänger entschädigt Sion Sono mit wahnwitzigen Ideen, wie man sie im Mainstreamkino wohl niemals finden wird.

Love Exposure

Rapid Eye Movies