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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

16. 8. 2009 - 23:18

Journal '09: 16.8.

A lightning that might strike. Bolt. Der vierte Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs.

Erster Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs: LA-WM samt Doping.

Zweiter Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs; Gentrifizierung und Lokal-Patriotismus.

Der dritte Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs: Die, die sich niemals an den Westen verkaufen werden: eisern Union.

Der vierte Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs: A lightning that might strike. Bolt.

Der fünfte Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs: Simulations-Parteien im Wahlkampf.

Der sechste Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs: Das Hemd an sich.

Nachtrag: Kümmernd und zweisprachig.

"Der größte Spielplatz der Stadt" steht als Titel auf der Sonntagsbeilage der Mopo, der Berliner Morgenpost. "Jeden Sonntag geht im Mauerpark am Prenzlauer Berg die Post ab." Große Reportage innen drin.

Wir lesen das, zwischen Nackedeis und Eiswagen an diesem kleinen See hinterm Rathenower Platz und sagen, ja, da waren wir vor zwei Stunden und wirklich wahr, der Flohmarkt dort ist echt kein Geheimtipp mehr. Aber das wird wohl auch schon im Frühjahr so gewesen sein, dass sich dort Stände mit sensationellen alten Möbeln, Schmuck und anderem Zeug, Biergärten, Runden von campierenden Freaks, Touristen, Einheimische, Slacker aller Art und an jeder Ecke zumindest zwei Musikanten herumtreiben.

Dass der Mainstream dieser Stadt das erst jetzt entdeckt, schon seltsam. Wir waren eigentlich dort um die Vertreter der Piratenpartei, die dort einen wöchentlichen Grillstammtisch betreiben, zu besuchen, aber das ist eine andere Geschichte für ein andermal.

Mauern. Piraten, Seen

Über unseren kleinen Scheißerl-See, den Tipp einer Freundin, steht in der großen "An welches Wasser am Sonntag?"-Reportage im Tagesspiegel nicht drin, immerhin und noch.

Die wunderhübsche Lacke (Bobos mit Mietliegestühlen auf der einen, Pöbel wild auf der Wiese lagernd auf der anderen Seite) war dann so nah an der Gegend Olympiastadion, dass ich mein vages Vorhaben, die Leichtathletik-WM vorort zu erleben, dann konkret machen musste - es wäre lächerlich gewesen die drei U-Bahn-Stationen nicht zu nehmen.

Es ist Sonntagabend, der Abend des 100 Meter-Finals, das hochgepitschte Duell zwischen Usain Bolt, dem großgewachsenenen jamaicanischen Showman und dem immer bitterer und griesgrämiger dreinschauendem Tyson Gay, der zwar die Jahresweltbestleistung hält, aber irgendwie verrät schon seine Miene, dass er weiß, dass sich Bolt, der Olympiasieger und Weltrekord-Zertrümmerer, heuer alles für diesen Tag aufgehoben hat.

Das hochgepitchte Duell im Olympiastadion

Es gibt Karten, man ist far from ausverkauft hier im Olympiastadion, der seit 1936 historischen Stätte. Ich wollte mich ja eigentlich brav akkreditieren, aber das, was von den freunlichen Berlinern da an Vorgaben zurückkam, grenzte an Wahnsinn: Es ging bis zu einem polizeilichen Leumundszeugnis, diversen absurden Bestätigungen des Dienstgebers etc. Ich hab der zuständigen Person, einer Dame mit dem aschönen Namen Knoke dann zurückgeschrieben, dass ich unter diesen Umständen auf eine Akkreditierung verzichte, und zwar nicht nur, weil ich den aktiven Schäublismus ablehne, sondern auch weil ich derlei Grotesken sonst nur von Kreditkartennummer-Phishern gewohnt bin und ich von dieser Tendenz, sensible Daten grundlos an eine (in diesem Fall auch noch ausländische) Staatsmacht freizugeben nichts halte und zudem gehört hatte, dass ich aufgrund des miserablen Vorverkaufs problemlos ein Tagesticket lösen würde können.
Was dann auch so war.

Es gab im übrigen keine knokische Reaktion; auch nicht zwei Wochen vor WM-Start als bekannt wurde, dass die Redaktion der taz die Spiele boykottieren würde - aus genau diesen Gründen - und sich der Pressechef in einer sehr verlogenen Äußerung an die Medien wendete: Er behauptete da nämlich, dass sich außer der taz weltweit niemand mokiert hätte, dass alle die (durch die Terror-Bekämpfung legitimierte) strenge Sicherheit so akzeptiert hätten. Ich habe daraufhin ein zweites Mail geschrieben - und wieder nichts weiter gehört.

Schäuble macht die Tür

Die Sicherheit war tatsächlich zum Greifen.
Wie schon beim Union-Spiel haben wir die Getränkflaschen problemlos reingeschmuggelt, meine Umhängetasche wurde genau gar nicht durchsucht. Die Sicherheitsabsperrung zum Pressezelt und dem Atlethenbereich war inexistent.

Im diesem Zusammenhang war das hirnlose Tamtam der Berliner Veranstalter rückwirkend noch einen Dreh absurder.

Die Show im Stadion drin war perfekt inszeniert. Ein internationales Sport-Touristen-Publikum samt Berliner Golden League-Meeting erfahrene Homecrowd, wußten um ihre Einsätze und spielten ideal mit.
Die Sonntagabend-Session hatte die Siebenkämpferinnen als Rahmenprogramm, dazu kamen die Dreispringer (Quali) und die Kugelstoßerinnen (Finale), die Semifinals der 400m Frauen und 400m Hürden der Herren und natürlich die 100 Meter. Da fanden die Viertelfinals der Frauen und Halbfinale sowie der Endlauf der Männer statt. Das Duell zwischen Gay und Bolt.

Eifrige Puma-Mitarbeiter liefen von dem Stadion mit auf den Rücken schnallbaren Bolt-Schaumgummi-Armen herum, die seine typische In-den-Himmel-Zeig-Geste imitierten und verteilten diesen schönen Blödsinn.

Das Business-Model "Schnellster Mann der Welt"

Im Herren-Sprint ist soviel Image und Marketing-Geld in Bewegung, dass ja sogar der eigentlich intern gesperrte Asafa Powell, die Nummer 3, von der overrulenden IAAF entsperrt wurde, um ja das optimal vermarktbare Starterfeld zusammen zu haben.

Im Halbfinale zuerst eine Schrecksekunde: Usain Bolt produziert einen Fehlstart. Nächstes Jahr würde das die Disqualifikation bedeuten, heuer geht es noch. Und fast hat man das Gefühl, als wär es Absicht gewesen. Dann spielte Bolt mit den Gegnern, hörte bei 60, 70 Meter mit dem Lauf auf und trudelte aus. Gay, im anderen Lauf gesetzt, hatte deutlich mehr Mühe zu gewinnen, und ging mit Zitronenmiene in die Kabine.

Bei den 400 Meter Semifinals der Frauen machte hingegen Sanya Richards einen Boltischen Eindruck und die Jamaicanerinnen verbissen sich dahinter.
Die 400m Hürden Halbfinals der Herren begannen mit einer großen Überraschung: Felix Sanchez, der einzige Exportartikel der Dom-Rep, war am Start. Mit ihm hatte zumindest ich nach seinen zuletzt verheerenden Auftritten nicht mehr gerechnet. Felix the Hurdle-Cat, der Ex-Olympiasieger, hatte die Bahn 1, war also scheinbar nur mühsam in dieses Halbfinale gekommen, schaffte da aber einen tollen zweiten Platz und den Finaleinzug. Das war mein erstes Kreisch-Erlebnis an diesem Abend.

Das deutsche Zwischenspiel

Die deutschen Zuschauer bekommen dann eine Show auf zwei Schauplätzen gleichzeitig. Zum einen wirft sich Nadine Kleinert, die Kugelstoß-Co-Favoritin, in die Medaillenränge (gegen eine feiste Chinesin und die imposante Maori-Kriegerin Valerie Vili), zum anderen ist Jennifer Oeser im Siebenkampf vorne mit dabei.

Im übrigen sagte Oeser vor diesem Lauf: "Jetzt kann mich nur noch ein Sturz stoppen!"

Im abschließenden 800m Lauf der Mehrkämpferinnen stürzt Oeser bei einem Mittelfeld-Gemenge bei Halbzeit des Rennens, rappelt sich aber auf und fightet sich wieder an die Spitze - das Stadion steht Kopf. Die Deutsche taumelt über die Ziellinie, wirkt verzweifelt, konnte zwar die eh schon insgesamt zu weit vorne liegende Engländerin Jessica Ennis nicht einholen, holt sich mit diesem Gewaltakt aber noch den 2. Platz. Etwas, was nach dem Schock eines Sturzes im entscheidenden Rennen eigentlich unmöglich ist.

Und auch die deutsche Kugelstoßerin wird zweite, nur von Vili geschlagen. Kleinert wirft ebenso wie die Chinesin Gong personal best, aber nicht einmal das reicht. Ich glaube, dass Vili drei Versuche hatte, die für Gold gereicht hätten.

Dann, kurz vor dem abschließenden 100-Meter-Finale gibt es die schönste Szene des Abends: Alle, also wirklich alle 7Kampf-Teilnehmerinnen, gehen gemeinsam auf die Ehrenrunde der Sieger durchs Stadion. Die Medaillengewinnerinnen haben ihre Flaggen dabei, wie das sonst auch üblich ist, aber sie feiern miteinander.
Das ist bei den Siebenkämpferinnen und den Zehnkämpfern eine unabgesprochene Tradition. Und vorbildlich. Und es macht Gänsehaut.

9,58

Dann die knappen zehn Sekunden zu Weltruhm. Ländermatch USA vs. Jamaica. Bolt und Powell gegen Gay und Patton, mit karibisch-englischen Adjudanten. Einzig Daniel Bailey aus Antigua darf mehr zugetraut werden.

Das Rennen ist früh entschieden: Bolt ist bei 30 Metern vorne und geht durch wie nichts. Gay müht sich zu Platz 2, Powell schafft den dritten, Bailey wird Vierter, alle haben sie personal best, aber es ist egal, weil Bolt verbessert, nein, er pulverisiert den Weltrekord.
Mit einem wieder einmal magischen Lauf.

Ich weiß, dass er - ebenso wie fast alle anderen, die wir heute gesehen haben - das alles nur mit Doping schafft, mit legalem, halblegalem oder illegalem.
In diesen flirrenden Momenten wo du nur kreischt und nur dreimal hintereinander "Unglaublich!" schreist, ist dir das wurscht, ist mir das wurscht.

Für diese Momente sind die anderen zigtausend hergekommen, für diesen Moment sitzen die Millionen vorm Fernseher, damit sie es live mitbekommen, den "hast du's auch gesehen!?"-Benefit haben und nicht schnarchsackig am Tag drauf in youtube anschauen.

Es ist live, wenn dich der Bolt of lightning erwischt.
Anders hat es keinen Sinn.
Und es war sehr sehr live heute Abend.