Erstellt am: 15. 8. 2009 - 15:23 Uhr
Welt am Strich
Genau dort sollte Locarno sich nieder lassen. Zwischen den bunten Bildern. Denn das Schweizer Filmfestival hat – die Branche weiß es und schickt daher nur mehr wenige ihrer Schäfchen hin - ein Relevanzproblem. Mit einer eklektischen Mischung aus Sundance-Favoriten, Kunstfilmexperimenten und opportunistischen Gefühlsschinken ist kein Pokal mehr zu gewinnen. Die Großfestivals von Cannes bis Venedig in ihrer Programmpolitik und –struktur nachzuäffen bringt also gar nichts. Locarno muss dort zuschlagen, wo die anderen aus welchen Gründen auch immer versagen: zum Beispiel beim japanischen Animationsfilm, der trotz massiv gestiegener Repräsentation auch auf den Roten Teppichen sich noch immer reduzieren lassen muss auf ein halbes Dutzend namhafter Regisseure wie Miyazaki, Oshii, Takahata, Rintaro. Dazwischen, daneben, darunter ist aber gerade eine ganze Industrie dabei, sich neu zu erfinden und zu positionieren, durchschlagskräftige Waffen zu entwickeln, um den zukünftigen Herausforderungen zumindest irgendetwas entgegen halten zu können.
Filmfestival Locarno
Das Schöne an der diesjährigen Locarno-Retrospektive Manga Impact mit ihrer über siebzig Filme umfassenden Versuchsanordnung und dem Ziel, eine nachvollziehbare Geschichte des japanischen Animationsfilmschaffens zu präsentieren, war, dass sie eben nicht im Kanon verhaftet geblieben ist, sondern auch darüber hinaus geblickt hat. Weltkriegspropaganda und humanistische Experimente, Erotikdramen und Actionthriller, Kinderkomödien und Marionettentheater: Anime ist weitaus mehr als ein Arrangement aus bubengesichtigen Männern mit eiförmigen Augen und halb aufgerissenen Mündern, lärmenden Robotern und Monstern.
Filmfestival Locarno
Neues Leben
Ganz im Sinne einer fortwährenden Wiedergeburt und Neuerfindung entwickeln sich die meisten japanischen Animationsstudios (von denen der Gründerväter mal abgesehen) aus Teilstücken der Vorgeneration heraus: Anfang der Achtziger Jahre entsteht durch Zutun von Suzuki Toshio das bald legendäre Studio Ghibli unter Federführung der schon renommierten und erfahrenen Animationskünstler Takahata Isao und Miyazaki Hayao (der unter anderem an der Anime-Serie „Heidi“ und dem Film „Little Norse Prince“ mit gearbeitet hat).
Suzuki ist als früherer Chefredakteur von „Animage“, dem 1978 gegründeten und damit ersten japanischen Magazin über Animes, mit den harten wirtschaftlichen Realitäten und den Konsumationsmustern der Otaku bestens vertraut gewesen und hat Ghibli zu einem ökonomisch funktionierenden Unternehmen gemacht. Denn von ihren Kunstwerken kann die Branche allein schon lange nicht mehr leben: vor allem die qualitativ hochwertigen und mühsam erarbeiteten Animationen, die zum Markenzeichen des Studio Ghibli werden, sind teuer.
Filmfestival Locarno
Praktisch jedes Anime kostet in der Herstellung mehr, als es dann in den Kinos wieder einspielen kann: ein Axiom der Branche. Gewinne stellen sich nur dann ein, wenn die Merchandising-Maschine gut geschmiert wird und die Fans mit Tassen, T-Shirts und Plüschfiguren versorgt. Da der wirtschaftlich denkende Suzuki genau das für das Studio Ghibli übernimmt, können Takahata und Miyazaki ihre Filme mit größtmöglicher Konzentration und Sorgfalt produzieren. In den Achtzigern entstehen dabei Meilensteine wie Miyazaki’s My Neighbour Totoro (immer noch mein Lieblingsfilm von ihm) oder Takahata’s Grave of the Fireflies.
When Geeks rule the World
Das zweite Studio, das in den Achtzigern gegründet wird und seitdem zu einer bestimmenden Kraft in der Industrie geworden ist, heißt Gainax. Im Unterschied zu Ghibli sind es hier nicht fortgeschrittene Künstler sondern vor allem junge Idealisten und Anime-Fans, die sich zusammen tun. 1981 und 1983 drehen die Gründer jeweils einen Kurzfilm für die Eröffnung der SF-Convention Daicon in Osaka: in Daicon 3 kämpft ein Mädchen gegen einen Roboter und fliegt schließlich mit einem Rübenraumschiff davon, in Daicon 4 bekämpft sich eine Assemblage aus Frühachtziger-Genreikonen von Storm Troopers und einem Giger-Alien hin zu den Helden aus „Mobile Suit Gundam“.
Tatsächlich ist Gainax bis in die Gegenwart hinein ein Freak-Stadel geblieben, hat seine Wurzeln weder vergessen noch verraten: mit der unfassbar erfolgreichen Serie Neon Genesis Evangelion aus Feder und Hirn des Mitgründers Anno Hideaki gelingt dem Studio ein großer Wurf, die Seele und das Herz von Gainax sind aber weit abseits von solchen Mainstream-Erfolgen zu finden. Vielleicht eines der interessantesten Animes der Neunziger Jahre und jedenfalls Avantgarde in Bezug auf seine Selbstreflexivität ist Otaku no Video, 1991 von Mori Takeshi inszeniert.
Filmfestival Locarno
Ein normaler Junge lernt darin die Otaku-Szene (beinharte Fans von Manga, Anime, Spezialeffekten, Spielzeugwaffen und vielem mehr) kennen, kapselt sich zunehmend von seinem alten Leben (inklusive Freundin) ab und versucht schlussendlich sogar – als Trotzreaktion auf die zunehmende Ausgrenzung durch die Nicht-Otakuwelt – zum Ota-king zu werden.
Eingestreut in die funktionalen Animationssequenzen finden sich Realfilm-Dokumente von Otaku: ein Bankangestellter versucht seine Cosplay-Vergangenheit zu verbergen, ein Lehrer rennt mit Tarnschminke durch den nächtlichen Wald. Am Ende lautet die Erkenntnis, dass die Otaku keine Rücksicht auf die Restwelt nehmen, sich für ihre Faszination/Obsession nicht zu schämen brauchen.
Der eine Film allerdings, der das Anime-Genre weltweit bekannt und salonfähig gemacht hat, war Akira. 1988 unter der Regie von Otomo Katsuhiro entstanden prägt der Actionthriller mit seiner postnuklearen Düsternis und generellen Verzweiflungshaltung die Wahrnehmung der japanischen (Erwachsenen-)Animation im Ausland, was von Oshii Mamoru’s Weg weisendem „Ghost in the Shell“ (1995) noch verstärkt wird. Wie divers und vielgestaltig die Anime-Produktionslandschaft trotz der massiven finanziellen Schwierigkeiten in Japan immer noch ist, zeigte in Locarno vor allem eine Auswahl an aktuellen Produktionen.
Richtung Zukunft
Hosada Mamoru, der sein Handwerk im Studio Ghibli erlernt hat, erzielte 2006 mit The Girl who Leapt through Time einen veritablen Überrraschungserfolg. Bei seiner Kinoerstauswartung sauste die Geschichte eines burschikosen Mädchens, das in der Zeit zurück springen kann, noch unter dem Radar der allgemeinen Anerkennung hindurch. Durch das Internet dynamisierte sich allerdings die Mundpropaganda und schon bald mussten in Tokio zusätzliche Kopien gespielt werden.
Filmfestival Locarno
Hosadas neuer Film heißt schlicht Summer Wars, erzählt von einem Schüler, der in seiner Freizeit Teile der virtuellen Netzwerks OZ, eine digitale Kopie der wirklichen Welt, administriert, dann jedoch von einer attraktiven Klassenkameradin abgeworben wird. Die kommt aus einer traditionsreichen Großfamilie und will ihre strenge Großmutter mit der Präsentation eines Bald-Ehemanns von ihrer Tugendhaftigkeit überzeugen. Es entwickelt sich eine pointiert geschriebene, fabulös inszenierte Sittenkomödie, die wenig später in einen Cyberthriller mündet: eine vom US-Militär entwickelte KI nistet sich in OZ ein, legt das gesamte öffentliche Leben lahm und droht die (virtuelle) Weltherrschaft an sich zu reißen. Gegen den digitalen Despoten helfen schließlich nur sehr analoge Strategien: die Großfamilie studiert die Angriffs- und Verteidigungspläne ihrer Vorfahren, münzt sie auf das Internet um und holt zum Gegenschlag aus.
Filmfestival Locarno
Hosada ist mit „Summer Wars“ ein Instant-Klassiker des Animes gelungen: eine atemberaubende Kombination aus abstrahierter Digital- und fülliger Analoganimation transportiert eine einfach, aber assoziationsgewaltige Geschichte, in der sich das Gestern und das Morgen zur Rettung des Heute verschränken müssen.
Hitler
Weniger gelungen, allerdings auch sehenswert ist First Squad: The Moment of Truth: der Japaner Ashino Yoshiharu und die beiden Russen Misha Shprits und Aljosha Klimov arbeiten ein russisches Comic aus den Achtziger Jahren zu einem Animationsfilm mit Fake-Dokumentationscharakter um. Hitler’s Okkultistengruppe „Ahnenerbe“ erweckt einen mittelalterlichen Ritter: dessen Schwert soll den deutschen Truppen an der Ostfront den Sieg bescheren. Eine sowjetische Geheimorganisation schickt das Mädchen Nadja ins Jenseits, um eine Untoten-Armee zu rekrutieren.
Filmfestival Locarno
Was die Geschichte also als „normale“ Schlacht liest, ist eigentlich im Reich des Übernatürlichen entschieden worden, empfiehlt der Film mit seinen Realfilminterviews von Soldaten und Zeitzeugen. Gerade diese ambitionierte Struktur ist es allerdings, die „First Squad“ in seinen nur siebzig Minuten zu Fall bringt: Spannung oder dramaturgische Kohärenz mag sich nämlich trotz aller Bildgewalt nicht einstellen. Das bessere Doku-Anime kommt aus der Feder von Sonderling Oshii Mamoru und heißt Musashi: Dreams of the Last Samurai. Aufbauend auf den unzähligen Legenden um den letzten Schwertkämpfer in der japanischen Geschichte, führt ein CGI-Professor mit seiner patscherten Assistentin durch das Studium der Musashi-Quellen.
Filmfestival Locarno
Filmfestival Locarno
Die diesjährige Locarno-Retrospektive Manga Impact ist von September bis Januar nächsten Jahres im Filmmuseum in Turin zu sehen. Ein Kurzurlaub ist sehr zu empfehlen. Unten stehend jetzt noch die Zusammenfassung der diesjährigen Locarno-Preisträger. Ich melde mich in guten zwei Wochen wieder mit einer Vorschau auf das Filmfestival von Venedig.
Die wichtigsten Preisträger 2009
Goldener Leopard: She, a Chinese von Xiaolu Guo
Special Jury Prize: Buben.Baraban von Alexei Mizgirev
Beste Schauspielerin: Lotte Verbeek in Nothing Personal
Bester Schauspieler: Antonis Kafetzopoulos in Akadimia Platonos