Erstellt am: 14. 8. 2009 - 22:12 Uhr
Journal '09: 14.8.
Erster Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs: LA-WM samt Doping.
Zweiter Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs; Gentrifizierung und Lokal-Patriotismus.
Der dritte Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs: Die, die sich niemals an den Westen verkaufen werden: eisern Union.
Der vierte Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs: A lightning that might strike. Bolt.
Der fünfte Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs: Simulations-Parteien im Wahlkampf.
Der sechste Eintrag eines kleinen Berlin-Tagebuchs: Das Hemd an sich.
Nachtrag: Kümmernd und zweisprachig.
Die deutsche Hauptstadt ist ja vor allem eines: weitläufig.
Es gibt hier viel viel, sehr viel Platz.
Das führt dazu, dass das Wesen der Stadt an sich, also die Konzentration, die Zusammenballung der Kräfte nicht mehr funktioniert, weil sich, wie in einem Land, erst recht wieder lokale Zentren bilden, die dann wiederum keine echten Kontakte mehr zu den anderen Zentren in der eigentlich selben Stadt pflegen.
Das ist einerseits erschreckend, andererseits auch wieder schön, in jedem Fall aber absurd.
Es kann dazu führen, dass der Rapper aus Neu-Kölln den Rapper aus Charlottenburg das erstemal zufällig via Youtube wahrnimmt, weil er zuvor noch nie was von ihm gehört hat, obwohl man in der gleichen Stadt agiert. Das hat auch damit zu tun, dass es in der Berliner Struktur wenig zentrale Mittler gibt, was sowas betrifft, und eigentlich auch keine übergreifenden Szenen.
Kiezberg
Ob diese Tatsache vor dem Fakt, dass es einen dauernaserümpfenden Wettbewerb der Kieze und Bezirke gibt, da war oder umgekehrt, ist für mich eine Henne/Ei-Frage. Berlin-Auskenner werden sie sicher beantworten können. Hat auch sicher was mit Ost/West-Animositäten zu tun, vor allem auch, weil ja gleich drei der neuen schicken Bezirke die in den letzen Jahren hochkamen und dem alten Kreuzberg Konkurrenz machten, ehemalige Ost-Gebiete sind.
Dieses Gerümpfe über die da drüben steht im übrigen im strikten Gegensatz zur an sich extrem positiven Grundeinstellung und zur offensiven Lebenshaltung der Einwohner, die schnell und problemlos zu ihren Kontakten und auch auf den Punkt kommen. Es ist auch keine Folge der Direktheit, die die Berliner und die in Berlin schnell zu Berlinern Sozialisierten auszeichnet.
Es hat eher damit zu tun, dass die Weitläufigkeit die meisten Bewohnen, auch die geistig mobilen, dran hindert auch geografisch mobil zu sein. Wer in seinem Bezirk gut verortet ist, der braucht die anderen kaum noch. Grenzgänge sind kaum möglich und auch unerwünscht.
Wir haben heute einen Neo-Neuköllner besucht, der das bereits verinnerlicht hat. Gut, er, der Exil-Ösi, ist einer der sich auskennt, auch mit dem Phänomen der Gentrifizierung, also der Verbürgerlichung und künstlich bettriebenen Verteuerung von vormals weniger gut angesehenen Stadtteilen.
Kreuz-Kölln
Das passiert nämlich grade was an der Grentze zwischen Kreuzberg, dem ewig kuhlen Subversion- und Trendzentrum und Neu-Kölln, dem wehrhaften Vorort mit dem Bad Boy-Image. Und es hat auch bereits einen Namen: Kreuz-Kölln.
Ein paar Straßenzüge jenseits des Landwehr-Kanals bis hin zur Sonnenallee hat Kreuzberg bereits eingenommen, unser Informant erzählt von neuen Restaurants, bei deren Besuch man 500 Euro ablegt und Bio-Honig-Shops, Williamsburg lasse grüßen.
In ein paar Jahren, wenn durch den Einfall der Schickies und Künstler die Mietpreise raufgehen und die angestammte Klientel anderswohin ausweichen muß, ist es vorbei, ahnt er.
Immerhin gibt es rund um das Flughafen-Areal Tempelhof sowas wie Widerstand, drohende Besetzung und damit sowas wie Aufmerksamkeit für das Problem.
Selbst bei ihm, in einer Gegend weit unterhalb von Kreuz-Kölln, habe dieser Tage ein Richtfest für ein Lokal stattgefunden, das er "bobo" nennt, sagt unser Zeuge und erzählt belustigt von Streit-Schreierein zwischen den Zuzöglingen und den Alteingesessenene, die die bevorstehende Gefahr wittern und sich mit untauglichen Mitteln zur Wehr setzen.
Das sind dann die Momente, wo der klassische Berliner Lokal-Patriotismus, der aus der freiwilligen Beschränkheit des Bezirks, der Wehrlosigkeit gegen die Weite und dem Fehlen der Mittler besteht, sich dann seltsam niederschlägt, umkippt in einen auf seine Art dann auch wieder betulichen Konservativismus. Als wären die Rechte derer, die zufällig ein paar Jahre vorher irgendwo gelandet waren gottgegeben, und alle anderen nicht berechtigt rüberzuschielen.
X-Berg unlimited
Und dass die entsprechende Umfeld-Industrie von Expansion und Stadt-Wachstum sich irgendwo austoben muß, liegt in ihrer Natur; und in der der Stadt an sich, für die Wachsen (egal wo) überlebensnotwendig ist. Und dass die Neugierigen und Offenen, die sich in bis dato tabuisierte Gegenden wagen, weil sie was riskieren oder auch einfach billige Gründe brauchen, womöglich weil der Prekarismus sie dazu zwingt, ist ihnen einfach nicht zum Vorwurf zu machen.
Am abend hat uns eine andere lokale Scoutin, die genau in dieser Schnittstelle lebt, durch die Lokalszene geführt. Und tatsächlich, es kreuzbergt dort. In den wohnzimmerartig eingerichteten Lokalen mit den häßlichen Tapeten tauchen unerwartet akustische Bands samt Vortänzern auf, die im Lokal fünf Songs spielen und dann den Hut gehen lassen.
Das ist für Alt-Neuköllner natürlich überflüssig - aber für die Musikanten bedeutet die Erweiterung des Gebiets in dem sowas möglich ist, schon wieder viel.
Und letztlich tun sie das, was alle anderen vermeiden: rüberschnuppern.
Berlin ist weitläufig.
Im Prinzip.
Manchmal fällt das Denken aber hinter die Geografie zurück. Und wird dann, wenn es rauslappt immer als Gefahr angesehen.
Ich bin da, klassische Gentrifizierungs-Thesen hin, Kiezdenken her, nicht so sicher.