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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

12. 8. 2009 - 14:37

Die Utopie Anime

Das Filmfestival von Locarno serviert eine Geschichte des japanischen Animationsfilms mit Riesenrobotern, Astroboys und Cleopatras wippenden Brüsten

Filmfestivals haben für gewöhnlich ja keinen ganzheitlichen Ansatz: Es geht darum, mit den selektierten Filmen das Publikum zu beeindrucken, ja, irgendeinen Eindruck zu hinterlassen, aber auch darum, dabei das Image nicht zu gefährden. Das heißt, dass all jene Erzählformen nicht in die geweihten Hallen, seien sie nun in Locarno, Berlin oder Wien, vorgelassen werden, die vom wohlmeinenden, elitären Organisationsapparat als inhaltlich oder formal unbemerkenswert eingestuft werden. Ich habe mir diese Frage schon oft gestellt, vor allem da es ja im Bereich der Kuratorenschaft oder Programmkommission keine Transparenz gibt: Wie, nach welchen Kriterien werden Filme ausgewählt?

Böse Zungen vermuten Willkür oder – noch schlimmer – opportunistische Strategien, wenn ein Regisseur X mit seinem Blaupausen-Weltverbesserungsfilm ins Programm aufgenommen wird, ein solider Zombiefilm aus Großbritannien (nur ein Beispiel) aber einmal mehr außen vor bleibt. Ausschließlich dem Genrefilm gewidmete Veranstaltungen einmal ausgeschlossen, ist dieses Vorgehen überall zu spüren: so genanntes Genrekino (was auch immer man darunter subsumieren mag, will, muss) wird entweder als reines Massenfutter als Mitternachtspremiere programmiert oder im Rahmen einer Spezialveranstaltung von federführenden Diskurslern so lange vertheoretisiert und blumig eingerahmt, bis explodierende Köpfe und rachsüchtige Barbusige auch für Godard-Puristen ins Weltbild passen.

Neue Zeiten

Locarno entwirft diesbezüglich in diesem Jahr, hoffentlich auch in den folgenden, eine Utopie. Denn die Retrospektive Manga Impact versorgt die Schweizer Kleinstadt nicht nur mit jeder Menge Otaku und Cosplay-Aficionados, zeigt nicht nur eine Geschichte des japanischen Animationsfilms en minature, sondern strahlt auch – das eigentlich Besondere – auf die anderen Sektionen des Festivals aus: im Internationalen Wettbewerb ebenso wie in dem der FilmemacherInnen der Gegenwart sind zeitgenössische, (hoffentlich) herausragende Animes zu sehen, eine Ausstellung in einer örtlichen Schule ermöglicht vertiefende Recherchen. Fast hat man das Gefühl, Locarno 2009 sei ein Anime-Festival mit einigen wenigen Filmen aus der Restwelt zum Drüberstreuen.

Cowboy, Pirat

Filmfestival Locarno

Unter der Regie von Rintaro entsteht Ende der Siebziger Jahre "Galaxy Express 999", eine von "Star Wars" beeinflusste Space-Oper. In einer Crossover-Nebenrolle ist Captain Herlock (links) zu sehen: der schnittige und schneidige Weltraumpirat ist in Japan so bekannt und beliebt wie Micky Mouse in den USA

Die eigentliche, jedenfalls nationale Explosion der „manga eigas“ (erst in den Siebzigern setzt sich der vom Filmkritiker Imamura Tohei geprägte Begriff des Anime, eine Kurzform des Katakanawortes Animeshon, durch) passiert 1963: Am ersten Januar dieses Jahres flimmert die erste Folge von Tetsuwan Atom über die japanischen Fernseher. Die Geschichte folgt einem niedlichen, kulleräugigen Roboterboy, der im Weltraum diverse Gefahren meistern muss. Die Vorlage dazu stammt von Manga-Gott Tezuka Osamu, dessen gezeichnete Geschichten allerdings eine weitaus düstere Stimmungslage aufweisen als die unter seiner Federführung entstandene Anime-Serie.

Zeichentrick

Filmfestival Locarno

Eines der wichtigsten Aushängeschilder der Anime-Kultur und Couture: der liebäugige "Astro Boy" fetzt in Tezuka Osamus legendärer Fernsehserie durchs Weltall und begeistert damit auch US-Babyboomer

Kullerauge, sei wachsam!

„Tetsuwan Atom“ (übersetzt in etwa: mächtiges Atom) ist vielleicht nicht das erste, jedenfalls aber das aufregendste und erfolgreichste Beispiel für die Internationalisierung japanischer Animationskunst (die ja wie andere Kunstformen nie „rein“ japanisch, sondern immer schon von diversen Faktoren, zum Beispiel dem russischen oder tschechischen Animationsfilm oder westlichen Mythen, Legenden und Popkulturgütern beeinflusst gewesen ist).

Im September 1963 läuft die Serie im US-Fernsehen als Astro Boy an und versetzt die Baby-Boom-Generation in Ekstase. Tezuka Osamu hat damit eines der langlebigsten und insgesamt erfolgreichsten Franchises im Anime-Bereich geschaffen, das auch im punkto Merchandising neue Akzente gesetzt hat. Die Zäsur war natürlich nicht nur eine ästhetische, sondern vor allem eine kommerzielle: Anime kann großes Geld machen lautete die Erkenntnis. Die Produktionsmaschinen liefen auf Hochtouren: dieser Dynamik konnte sich auch Tezuka, der seine Manga-Kreation unbedingt verfilmen wollte, nicht erwehren und willigte in einen beinharten Knebelvertrag mit Fuji TV ein. Gemeinsam mit seinem kleinen Team musste er rund um die Uhr arbeiten: die Budgets waren klein, die Zeitpläne äußerst knapp bemessen.

Aus der Not wird eine Tugend werden die ästhetischen Parameter des Animes: die wenigen, im Fall von „Astroboy“ sind es nur drei, Mundstellungen der gezeichneten Figuren sind darauf zurück zu führen, dass die Stimmen erst später eingesprochen worden sind. Weitere Spar-Stilistiken sind etwa die häufigen Close-Ups auf das Gesicht einer Figur (dafür wurde nur eine einzige Zeichnung verwendet) oder das Anlegen einer Gemeinbilderbank, aus der man sich immer wieder bedienen konnte. Obwohl „Astroboy“ das Genre zweifelsohne dynamisiert und modernisiert hat, ist Tezukas Entscheidung für den Deal nicht unumstritten: Studio Ghibli-Mitgründer und Anime-Legende Miyazaki Hayao etwa macht ihn für die zur Normalität gewordenen Unterbudgetierung von japanischen Animationsfilmen verantwortlich.

Mann

Filmfestival Locarno

Miyazaki Hayao, Mitgründer des legendären Studio Ghibli, eine der wenigen verbliebenden traditionellen Produktionsfirmen

Animierte Geschlechter

Tezuka (von dem außerdem die Vorlage zu Kimba, the White Lion stammt; immerhin hat der Mann zeitlebens über 150.000 Seiten gezeichnet) ist im Anime-Genre noch für eine weitere Revolution verantwortlich: gemeinsam mit Yamamoto Eiichi führt er Regie bei zwei Filmen, die für gemeinhin als erste Erwachsenen-Animes bezeichnet werden, was vor allem an ihren, für den heutigen Zuseher biederen, Erotiksequenzen liegt. 1969 entsteht Arabian Nights, eine Adaption von Scheherazades klassischer Erzählung, die angefüllt ist mit visuellen Experimenten und haufenweise sexuellen Anspielungen. 1970 drehen Yamamoto und Tezuka die Quasi-Fortsetzung Cleopatra: Queen of Sex.

Cleopatra

Filmfestival Locarno

Die vollbusige Cleopatra ist Hauptdarstellerin in einem der ersten "adult-oriented anime" der Filmgeschichte

Obwohl nach diesem Durchbruch vermehrt Animes mit erotischen und/oder sexuellen Inhalten in die Kinos kamen, passierte die Hentai-Explosion (wie die der Realfilm-Pornografie) erst in den Achtziger Jahren nach der Marktdurchsetzung des Videorekorders. Die Hentais sind in Locarno, und das ist der einzige Punkt, den man den Organisatoren vorwerfen muss, leider nicht Teil der Retrospektive, obwohl sie den internationalen Siegeszug wie auch das „Big Business“ des Anime-Genres im Ausland wohl zu einem Gutteil mitzuverantworten haben. Interessierte sollten bei Takayama Hidekis Hentais Legend of the Overfiend und Legend of the Demon Womb beginnen und einen starken Magen mitbringen. Entstanden zwischen 1987 und 1991 als fünfteilige Videoserie, die für den ausländischen Markt auf zwei Langfilme zusammen geschnitten worden ist, ist darin unter anderem die erste Tentakelvergewaltigung der Filmgeschichte zu sehen.

Ich weiß sehr wohl, nur damit ich einige Kommentare gleich beantworten kann, dass ich bei meinem kursorischen Surfen durch die Anime-Geschichte vieles nicht erwähnt habe. Genau so gut wie auf „Astroboy“ hätte ich etwa auf die in Japan und den USA erfolgreiche „Speed Racer“-Reihe eingehen können. Hinter der Entscheidung für etwas und gegen etwas anderes verbirgt sich allerdings keine böse Absicht, sondern reine Notwendigkeit.

The Rise of the Mecha

In den Siebziger Jahren etablierte sich noch ein weiteres Subgenre des Anime: Mecha. Wie der Name verrät, dreht sich in diesen Trickwelten alles um Roboter und sonstige Maschinen. 1972 debütiert Mazinger Z, eine TV-Adaption von Nagai Go’s Manga, der das Konzept eines von Menschenhand gesteuerten Riesenroboters eingeführt hat. Es folgten internationale Erfolge von Gatchaman (1972) bis Mobile Suit Gundam (1979).

Roboter

Filmfestival Locarno

Apotheose des Mecha-Subgenres: Mobile Suit Gundam sieht nicht nur famos aus, sondern ist auch höchst politisch
Anime

Filmfestival Locarno

Gurren Lagann vom Studio Gainax versteht sich selbst als liebevolle Renovation der in den 70ern und 80ern populären Mecha-Animes wie "Mobile Suit Gundam"

Das erstaunliche am Mecha-Subgenre ist unter anderem seine Langlebigkeit: in Japan ist etwa Gurren Lagann, eine frenetisch geschnittene, kunterbunte Serie um eine Gruppe Jugendlicher, die an der Erdoberfläche gegen gigantische Maschinenwesen kämpfen, der letzte Schrei und hat es bereits zu zwei Kinoeinsätzen gebracht. Produziert wird „Gurren Lagann“ vom Gainax-Studio, das neben dem von Miyazaki Hayao und Takahata Isao begründeten Studio Ghibli eines der größten und wichtigsten Japans ist. Beide Häuser entstehen Ende der Siebziger bis Anfang der Achtziger und schlagen ein neues Kapitel in der Anime-Geschichte auf. Mehr dazu in meinem nächsten Text.