Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Jarvis Cocker beim FM4 Frequency Festival"

Eva Umbauer

Popculture-Fan und FM4 Heartbeat-moderierende Musikjournalistin.

12. 8. 2009 - 17:14

Jarvis Cocker beim FM4 Frequency Festival

Vorfreude auf den ex-Mastermind von Pulp

Alles rund ums ausverkaufte (!) FM4 Frequency:

Warten auf Jarvis: "He should be here in a minute", sagte Jeannette Lee, Co-Chefin von Geoff Travis bei Rough Trade in London. Es muss vor genau fünfzehn Jahren gewesen sein, auf der Golbourne Road, nahe dem Portobello Market. Rough Trade hatte das Management für Jarvis Cocker übernommen, und es war praktisch genau jener Moment, wo Jarvis einerseits schon der Rising Star war, aber eben gerade noch der Jarvis, der sich mit seiner Band Pulp schon mehr als eine ganze Weile erfolglos abgemüht hatte. Und da kam er schon zur Tür herein: groß und schlaksig, in einem schönen, bunten alten Hemd, und in der Hand diese Puppe mit den genauso schlaksig anmutenden Armen und Beinen. "It's a Humpty Dumpty", sagte Jarvis. Jene Puppe aus Alice im Wunderland und diesem englischen Kinderreim, deren Kopf und Körper wie ein Ei aussieht:

Humpty Dumpty

John Tenniel

"Humpty Dumpty sat on a wall, Humpty Dumpty had a great fall. And all the King's horses and all the King's men couldn't put Humpty together again."

Warum Jarvis diese Puppe mitgebracht hatte? Ich weiß es nicht mehr, aber der Anblick dieses Menschen, der mit der Puppe in der Hand durch die Tür stakste, den werde ich nie vergessen. Jarvis hatte diese gewisse Melancholie in den Augen, hinter den dicken Brillengläsern, die er dann direkt vor Ort gegen Kontaktlinsen austauschte. Jarvis hatte diesen britischen Second-Hand-Look, der oft mehr Verzweiflung ausstrahlt als Coolness. Und Jarvis hatte diesen Song namens "Sheffield: Sex City", ein manisches Epos, halbgesprochen und halbgesungen - von Sex, nicht nur nachts, sondern auch am – arbeitslosen - Nachmittag, an Plätzen die nur dem Sheffield-Einheimischen vertraut sind: Manor Park, Shalesmoor, Broomhill: "The city is a woman, bigger than any other. Oh, sophisticated lady, yeah, I wanna be your lover."

Manchmal denk ich mir ja heute, vielleicht würd ich diesen Jarvis ja jetzt etwas "creepy" finden, ihn gar für einen "sex-crazed" Maniac halten? Davor schützte mich jedoch die doch gewissermaßen auch jugendliche Naivität, und das war gut so: uneingeschränkt hinein in die obsessive Welt des Jarvis Cocker. Das war jedenfalls meine Fan-Devise.

"Babies" oder "Do You Remember The First Time" hießen ein paar der Songs, und zu "Common People" war es auch nicht mehr weit: jenem bis heute gültigen Meisterstück britischer Sozialstudie in Form eines Pop-Songs. Jarvis war nun ein Brit-Star. Geflankt von zwei anderen New Kids on the Block: rechts von ihm die jungen Machos von Oasis und links von ihm die stets mit ihrer Intelligenz spielenden Blur. Jarvis war weiterhin der linkische Outsider, trotz des neugefundenen Erfolgs. Genau das machte sein Startum dann auch aus. Ein gerade den Nöten der britischen Arbeiterklasse entkommener Liam Gallagher zelebrierte sich, von Champagne-Supernova-angefeuerten Fantastereien, als neuer Star der britischen Musik. Ein Damon Albarn kokettierte mit dem End Of A Century und Suede hatten sich gerade auf dem auch nicht unehrenvollen vierten Britpop-Platz eingerichtet. Jarvis Cocker also mittendrin und doch irgendwie in a league of his own, mit anderen musikalischen Einflüssen, Texten und Kleidern. Und bald warfen sich ihm schon die beautiful people an den Hals. Jarvis genoss es – wie ein ungeliebtes Kind, das endlich Anerkennung findet. Insgesamt aber blieb er der Bohemien, der aus der Armut kam, oder zumindest von den ganz gewöhnlichen englischen "common people", in deren Spannungsfeld seine Themen wie unausschaltbare Gedanken kreisten. Dieses Gefühl der Common-People-Herkunft konnte oder wollte Jarvis dann auch nie wirklich ablegen.
Auf "His 'n'Hers" folgten die Alben "Different Class", "This Is Hardcore" und "We Love Life", aber weil eine Band vor allem "A young man's thing" ist (Zitat Paul Weller), und der Künstler später dann irgendwann meist aus dem Band-Verband heraustritt und zum Solo-Künstler wird, hat auch Jarvis Cocker – ohne großen Aufhebens – Pulp stillgelegt. Ein offizielles Ende der Band gab es nie. Nachdem das letzte Pulp-Album nun aber schon acht Jahre zurückliegt, darf die Band getrost für tot erklärt werden. Eine Reunion irgendwann einmal sollte dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden.

Post-Pulp Jarvis

Jarvis, so wie eben beschrieben, wird also immer nicht nur mein, sondern gewissermaßen unser aller Jarvis bleiben. Von einst glühenden Fans weiß man, dass sie inzwischen gestandene Berufe haben und eben genau jenen Jarvis für immer so in Erinnerung haben werden. Wenn die inzwischen schon seltener - aber doch noch immer - gestellte Frage kommt: "Blur oder Oasis? Auf welcher Seite warst du damals in den 90ern?" Dann kommt die Antwort: "Pulp! Sie waren die beste der Britpop-Bands." Weil Jarvis ein Pop-Exzentriker ist, wie ihn nur Großbritannien hervorbringen kann, weil er letztlich immer uncool war, weil er mit der Musik von Tony Christie - einem Schlagerstar aus Sheffield – aufgewachsen war, weil seine Arme und Beine viel zu dünn waren, seine Augen zu fehlsichtig und seine Zähne viel zu wenig weiß und die nötige Regulierung mittels Zahnspange nie bekommen hatten.

Jarvis mit Brille, Kopffoto

Rough Trade

Man könnte ganze Bücher füllen mit Zeilen, die Jarvis analysieren. Vielleicht ist das aber auch nur alles schlicht und einfach ein wenig übetrieben, weil eben diese gewisse Begeisterung dahintersteckt, wie man sie nur Figuren der Pop-Culture entgegenbringt. Wie auch immer, ich bin ja wirklich froh, dass Jarvis dann in diesem Sommer vor fünfzehn Jahren berühmt geworden ist, denn es hat ihn gewissermaßen gerettet. Nein, Jarvis hätte sich nicht beschwert, wäre es nicht so gekommen. Er wäre einfach in einem der Council-Häuser in Sheffield geblieben, hätte bei geöffnetem Fenster weiter die täglichen und nächtlichen Geräusche der Gegenüber mitgehört, hätte Gedichte und Songs darüber geschrieben. Er wäre ein zynischer alter Mann geworden, vielleicht/wahrscheinlich sogar ein böser alter Mann, der mit Platzpatronen auf die Tauben schießt und mit den Kids in der Wohnhausanlage schimpft: "P*** off, you little f******!"

Jarvis Cocker in Seitenlage, Beine hochgestreckt

Rough Trade

Oh my God, lass uns diese Gedanken erst gar nicht weiterdenken. Aber: alter zynischer Mann? Formulieren wir es etwas gewählter: älterer, leicht zynischer Herr. Trifft das auf Jarvis zu? Ja, klar. Schließlich gab es auf seinem ersten Solo-Album, dem vor fast drei Jahren erschienenen und schlicht "Jarvis" genannten Solo-Debut, Songs mit den Titeln "I Will Kill Again" oder "Fat Children", und das neue Album heißt nicht von ungefähr "Further Complications". Dass letzteres zusammen mit dem US-Produzenten-Grantler Stevie Albini entstanden ist, ist auch kein Zufall.
Ich bin froh, dass Jarvis mit Pulp diesen Erfolg hatte, sonst gäbe es das alles jetzt nicht: Jarvis zusammen mit Herrn Albini, Jarvis zusammen mit Kid Loco, Jarvis als Relaxed Muscle, Jarvis in Paris lebend, Jarvis Songs für einen Harry Potter Film schreibend, Jarvis ein gar schauriges Kinder-Gedicht rezitierend,...

Ja, ich gebe es zu, ich habe das alles noch nicht der Analyse unterzogen, die es vielleicht brauchen würde. Aber ich werde es auch nicht tun und ihn einfach weiter so annehmen wie er daherkommt, er ist schließlich Jarvis, Jarvis Cocker, ex-Pulp-Mastermind, der in Wahrheit nie etwas anderes wollte als einen schönen, klassischen, melancholischen Song für Nancy Sinatra schreiben - welchen er dann auch noch selbst
einspielt: "Don't Let Him Waste Your Time". No, no, no, dear Jarvis, you have never ever wasted our time!

Jarvis Cocker spielt am Freitag, 21. August, am FM4 Frequency Festival in Sankt Pölten.