Erstellt am: 11. 8. 2009 - 18:07 Uhr
Unglück über dem Hudson
Kennt ihr ihn, den kurzen Flirt mit dem Abgrund, wenn man auf einer Klippe oder hohen Brücke steht oder – so wie ich eben – an Deck eines fahrenden Schiffes? Dieses kurz aufflackernde Verlangen hinunterzuspringen und loszulassen, alles? Diesen Impuls, der doch nichts anderes ist, als die Versicherung des Lebens, weil man es eh nie machen würde?
Ich schau rüber auf Hoboken. Unser Ausflugsschiff der Circle Line hat gegen 11 Uhr 40 abgelegt und tuckert nun vom Pier 83 auf Höhe 43ste Straße in Richtung Südspitze von Manhattan.
FM4 / Christian Lehner
Der Onkel, die Tante und die Liebe sitzen auf dem Oberdeck. Verwandtenprogramm. Aber kein Problem. Ich mag diese Rundfahrten auf Touristenkuttern. Es ist eine etwas skurrile Bestätigung der eigenen Präsenz. Die Pracht der Metropole, sie glänzt besonders in der Begeisterung des Besuchers, eine Rolle, die New York auch seinen Bewohnern immer wieder offeriert.
Unser Guide ist verzweifelt, der deprimierteste Mensch der Welt. John, so stellt er sich vor, hat die 70 schon überschritten. Ein galanter Herr, der die eine oder andere verrückte Geschichte zu erzählen hat. Doch niemand hört ihm zu. Gefühlte 80 Prozent an Bord sind europäische Touristen mit brüchigen Englischkenntnissen. „Listen folks, ...“ setzt John den Auftakt. Drei Satzteile später ebbt die Stimme ab. Der Gent in seiner weißen Uniform seufzt und murmelt resignierend ins Mikrophon – so wie David Letterman in der Blende zur Werbepause, wenn er mit seinen Interviewpartnern unzufrieden ist.
FM4 / Christian Lehnr
Die Neugierde hat mich an die Reling des vorderen Unterdecks getrieben. Alle Augen über Steuerbord nach Manhattan. Ich aber interessiere mich für die Ortsansammlungen am gegenüberliegenden Ufer. New Jersey (state) mit Hoboken und Jersey City. Das, weil ich vor zwei Wochen beim All Points West Festival im State Liberty Park unweit der Freiheitsstature war und knapp davor mit Paul Banks von Interpol telefoniert habe, der irgendwo an der Waterfront von Jersey City oder Hobolken wohnt. Brandneue Luxus-Condos wechseln sich mit verrostenden Werft- und Hafenanlagen ab.
Johns Ausführungen sind ein einziger Sermon der Vergänglichkeit – der Gent, der aussieht, als wäre er selbst einmal Mitglied des Rat Packs gewesen, illustriert seine Melancholie anhand der rasanten Veränderung des Großraum New Yorks: „This is Frank Sinatra Park“, erzählt er in Richtung Jersey deutend, „now what would 'The Voice' say about the gentrification?“. Wir befinden uns ca. auf Höhe der 14ten Straße, gut fünfzig Meter vom Ufer entfernt.
Knapp zwanzig Minuten später kollidieren über dem Hudson eine alte Sportmaschine und ein Ausflugshelikopter – ca. auf Höhe der 14ten Straße gut 50 Meter vom Ufer entfernt... neun Menschen, darunter fünf italienische Touristen, sterben. Zwanzig Minuten später informiert uns John über eine diesbezügliche Meldung der Küstenwache. Von Todesopfern ist da freilich noch keine Rede. Niemand schenkt der Durchsage große Beachtung. Auch ich nicht. Es ist ein schöner Tag, ein sehr schöner Tag in New York. John ist kaum zu verstehen. Er legt das Mikrophon weg, flucht und geht kurz aufs Klo.
FM4 / Christian Lehner
Unser Schiff fährt die geplante Route über die Freiheitsstatue, den Financial District hinein in den East River zur Brooklyn Bridge und wendet beim UNO-Hauptgebäude.
Eine dreiviertel Stunde nach dem Crash erreichen wir die Absturzstelle. Die Küstenwache hat den Schiffsverkehr gesperrt. Wir hängen also fest, knapp 100 Meter von der Unglücksstelle entfernt. Erst jetzt Aufregung auf dem Ausflugskutter. Zu sehen sind Rettungs- und Bergungsschiffe der Küstenwache, Feuerwehr und Hafenpolizei. Hubschrauber kreisen über der Absturzstelle. War das ein Rettungstaucher, der da ins Wasser gesprungen ist und jetzt abtreibt? Die Strömung ist stark. Der Hudson ist einer der wenigen Flüsse, die im Unterlauf in beide Richtungen fließen. Genauers kann ich nicht sehen. Ich fluche, weil ich mein Tele nicht dabei habe. John meldet, dass wir wahrscheinlich um die ganze Insel herum müssen, um wieder zum Pier 83 zu gelangen. Plötzlich verstehen alle. Unmut macht sich breit, mischt sich mit Staunen. Handies und Digicams zeigen in Richtung Absturzstelle. Keine Wrackteile zu sehen. Ob das jemand überlebt hat?
FM4 / Christian Lehner
Ich check kurz Twitter, Facebook, die Site der New York Post. Die Nachricht ist überall. Vorerst ein Todesopfer. Identität unbekannt. Anruf beim Aktuellen Dienst des ORF in Wien. Da steht die Meldung auch schon auf ORF.at. Nach mehreren Telefonaten mit dem Chef vom Dienst wird ein Einstieg in die ZIB verworfen. Dafür ist es schon zu spät. Außerdem kursieren via Nachrichtenagenturen bereits die ersten Augenzeugenberichte vom Crash. Mit sowas kann ich ohenhin nicht dienen.
Da meldet John, dass der Wasserweg wieder frei gegeben wurde. Das erspart uns zusätzliche drei Stunden auf dem Schiff. Wir halten auf den Zielhafen zu. Noch einige Blicke über die Reling, Fotos und Telefonate. Dann beruhigt sich die Szenerie an Deck. 100 Meter entfernt von den Weltnachrichen macht sich erneut Ausflugsstimmung breit. John murmelt etwas von „arme Schweine“. Der alte Mann wirkt jetzt so richtig alt. Am Pier wartet bereits die nächste Meute. Eine Tour muss der Gent noch durchstehen. Es ist ein schöner Tag, ein sehr schöner Tag in New York.