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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

9. 8. 2009 - 13:43

Otako-Orgasmus in Pikachu-Perfektion

Das Filmfestival von Locarno widmet seine Retrospektive dem japanischen Animationsfilm und serviert eine sensationelle Auswahl von Propagandatrickfilmen: über Kinderserien hin zu existenzialistischen Meisterstücken. Teil eins meines Versuchs, das Wunder der Animeshon zu verstehen.

Hinweis für den interessierten und wissenden Leser: Da ich diese Texte in relativer Eile und hoher Geschwindigkeit zwischen meinen Ausflügen in die bunten Anime-Welten schreibe, verzichte ich hier auf die eigentlich obligatorischen "macrons" über den Vokalen.

Tragetaschen, Rucksäcke, Regenschirme, Regenhäute, Strohhüte, Caps, Flip-Flops, T-Shirts, Schlüsselbänder, Poster, Fahrräder, Sonnenbrillen: Das seit vergangenem Mittwoch laufende Filmfestival von Locarno verkauft seine – im übrigen ziemlich scheußliche – Corporate Identity auf so vielen Gebrauchs- und nicht zu gebrauchenden Gegenständen, dass das auch recht umtriebige Marketing-Kommando der heimischen Viennale ganz rot vor Neid werden dürfte. Also, verehrte Freunde geschmackloser Umhängetaschen und sonstiger identitätsstiftender Hilfsmittel: eine knappe Mail an mich genügt und ich bringe euch leopardenpunktgemustertes Merchandise aus der italienischen Schweiz mit.

Mann mit Pfeife

Locarno

Nein, ich weigere mich zu glauben, dass der japanische Anime-Regisseur Yamaga Hiroyuki (The Wings of Honneamise) hier eine Pfeife mit Leopardenmuster im Mund hat.

Locarno ist in diesem Jahr 62 Jahre alt geworden und damit eines der ältesten Filmfestivals der Welt. Um das Bild noch schärfer zu stellen: Wenn Cannes eine leicht faschistoide, öffentlichkeitsgeile Tante mit vielen berühmten Freunden, wenn Venedig ihre gegenkulturell angehauchte Schwester ist, dann ist Locarno eine in einem Haus am Lago Maggiore lebende, grotesk geschminkte Alte mit knallbunten Ohrringen und tiefem Dekollete. Ich persönlich geh' mit ihr gern auf einen Aperol Spritz, insgesamt bin ich schon zum vierten Mal hier im Schweizer Tessin. In diesem Jahr habe ich auch noch jeden Grund dazu: Die Wettbewerbsprogramme und sonstigen Sektionen sind zwar immer noch ausgesprochen wackelig und relativ richtungslos – was ich bisher beurteilen kann - programmiert, soll heißen von Meisterwerk bis Dung ist jedwede Abstufung vorhanden, aber a) erhält hier US-Regisseur William Friedkin (The Exorcist, Cruising, Bug) einen verdienten Lebenswerkpreis und b) richtet das Filmfestival von Locarno heuer eine sensationelle Retrospektive aus.

Zeichentrick, mann

Filmfestival Locarno

Oshii Mamorus Meisterstück "Ghost in the Shell", zu 30% mit US-amerikanischem Geld finanziert, hat 1995 den internationalen Siegeszug des japanischen Animationsfilms weiter geführt.

Nanni Moretti, Aki Kaurismäki und Mike Leigh waren die Tributierten in den Vorjahren: zwar alles – irgendwie – verdienstvolle Filmemacher; die mich allerdings bis auf den einen oder anderen Ausnahmefilm kalt lassen, die mich jedenfalls nicht dazu anregen, mir ihr Gesamtwerk einzuverleiben. Immerhin muss man es im Anschluss auch noch verdauen. 2009, so scheint's ist das Jahr, in dem Locarno kippt: die letzte Edition unter der Federführung des zwar grundsympathischen, aber wenig durchsetzungskräftigen Direktor Frederic Maire, bevor der bisherige Quinzaine der Realisateurs-Leiter Olivier Père das Ruder übernimmt – und Locarno vermutlich radikalisieren wird. Ganz so, als wollte Maire eine unvergessliche Abschiedsvorstellung geben, zeigt die vom Filmfestival Locarno und dem Filmmuseum Turin organisierte Schau Manga Impact, die später im Jahr auch in Turin zu sehen sein wird, das japanische Animationsfilmschaffen in einer jedenfalls in Europa noch nie da gewesenen Breite. Banzai!

Puppentrickfilm

Filmfestival Locarno

Ein in Europa noch nahezu unbekannter Regisseur ist Kawamoto Kihachiro: Der Regisseur, der in Prag Stop Motion-Animation studiert hat, dreht seit den Siebziger Jahren handgefertigte Marionetten-Kunststücke wie "The Demon" (1972).

Die Schau bietet dabei, was dem Gros des Restprogramms, vielleicht auch zwangsläufig, fehlt: eine Leitlinie, eine Geschichte, um all die Geschichten zusammen zu halten. Systematisch arbeitet sich "Manga Impact" von den frühen 1910er-Jahren durch die Animationsfilmgeschichte und passiert irgendwann freilich auch jene Arbeiten, die selbst Nicht-Otaku ein Begriff sind. Stichwort: Miyazaki Hayao (der im Wiener Filmcasino Mitte September mit einer Gesamtretrospektive gewürdigt wird!).

Das meiste Material aus der Frühgeschichte des japanischen Kinos ist verloren. Katastrophen wie etwa das große Kanto-Erdbeben des Jahres 1923 oder auch die Luftangriffe während des Zweiten Weltkriegs haben einen Großteil des – wenn überhaupt – archivierten Materials vernichtet, sodass Filminteressierte das japanische Animationsfilmschaffen bis hinein in die 1930er-Jahre bis auf wenige Ausnahmen höchstens rekonstruieren, nicht jedoch studieren können.

Einer der ältesten Anime, obwohl das Kunstwort erst viel später entstanden ist, der bei den Filmfestspielen von Locarno zu sehen ist, heißt "Taro Urashima" und datiert aus dem Jahr 1918. Regisseur Kitayama Seitaro hat den Animationsfilm sehr früh für Werbe- und Erziehungsfilme eingesetzt und auch gleich das erste, noch sehr kleine, Animationsfilmstudio Japans gegründet. Viele der Kurz- und Kürzestarbeiten aus dieser Zeit hangeln sich in ihren 60 bis 90 Sekunden Laufzeit an einfachen und vom Publikum leicht zu erkennenden Vignetten aus populären Volksgeschichten entlang.

Zeichentrick

Filmfestival Locarno

"The White Snake Enchantress" von Yabushita Taiji ist 1958 entstanden und einer der ersten Anime-Langfilme überhaupt.

Ein weiterer Animationspionier war Ofuji Noburo, der bei "Manga Impact" gleich mit einem Spezialprogramm gewürdigt worden ist, das Meisterstücke seiner über vierzigjährigen Karriere umfasst und zeigt. Ofuji etwa zeichnet verantwortlich für den ersten "manga eiga" mit Ton ("The Whale", 1927) und hat sich während des Zweiten Weltkriegs auch für die populären Propagandaanimationen engagiert. Durchaus verständlich: Während die meisten Regisseure/Künstler in den 20er/30er-Jahren teilweise mit Kreide und Tafel arbeiten mussten, ermöglichten es die Kriegsausgaben des japanischen Imperiums sozusagen im Alleingang, das Genre des Animationsfilms in Japan zu modernisieren.

Bekannte und beliebte Figuren wie Momotaro feuerten von Kriegsschiffen auf Feinde. Spätestens nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, deren katastrophale Konsequenzen nicht nur Japans offizielles Handeln durch das gesamte 20. Jahrhundert anleiten sollten, sondern auch das Anime-Genre wie kein anderes Ereignis sonst beeinflussen, war der Zweite Weltkrieg Geschichte – und der Animationsfilm orientierte sich erneut um. Die US-amerikanischen Besatzungsmächte sorgten dafür, dass ihre westlichen Werte und Lebenskonzepte sich in Japan fest setzten und gaben Filme wie "The Magic Pen" von Kumagawa Masao in Auftrag. Man sieht einen (schon physiognomisch verwestlichten) Jungen, der zwischen den Trümmern eine Puppe findet. Das Stoffmädchen erwacht in der Nacht zum Leben und schenkt dem Buben einen magischen Stift: Alles, was man damit zeichnet, wird Realität. Ein passgenaue Wunscherfüllungsmaschinen nach amerikanischer Vorstellungskraft. Ein modernes Einfamilienhaus, ein Cabrio und andere Luxusgüter aus dem paradiesischen Westen lassen aus der Trümmerwüste ein gar nicht mehr so entfernt wirkendes Utopia werden.

Löwenjunge

Filmfestival Locarno

"Kimba, the White Lion" war die erste farbige Anime-Serie, die im japanischen Fernsehen zu sehen war. Basierend auf dem erfolgreichen, bahnbrechenden Manga "Jungle Emperor" von Legende Tezuka Osamu, entstand 1966 ein Kinozusammenschnitt mit teilweise neu gedrehten Sequenzen unter der Regie von Yamamoto Eiichi, der Jahre später für die ersten "Adult-oriented manga" verantwortlich zeichnet. Mehr dazu in meinem nächsten Text.