Erstellt am: 7. 8. 2009 - 17:52 Uhr
Journal '09: 7.8.
Das Ausländer-Rein-Journal, Teil 1.
Gestern, nach dem Spiel am Verteilerkreis ist mir eine Straßenbahn vor der Nase davongefahren, und die nächste wäre erst in 12 Minuten gekommen - also hab ich beschlossen, die drei Stationen zum Reumannplatz zu Fuß zu gehen.
Es ist eine Gegend, in die ich sonst kaum komme, obwohl ich sie von früher kenne: die obere Favoritenstraße bis zum alten Landgut, dem sogenannten Verteilerkreis, wo sich der urbane Teil Wiens verabschiedet und zum ländlich-vorstädtischen wird. Das ist kein Ghetto, es sind auch keine Outskirts, aber eben eine unbedachte Gegend.
Post nach Favoriten
Ich war hier, im Alter von 16 oder 17, für zwei, drei Tage einmal Postler. Mein eigentlicher Rayon in diesem Sommer als Ferialjobber war auf der anderen Seite, westlich des Reumannplatz, hatte mich da grad eingewöhnt; aber irgendwie musste ich kurzfristig auf der anderen Route einspringen. Und ich war überfordert, unter anderem auch von einem Wust von Briefen, der an eine Art Männerwohnheim für ausländische Gastarbeiter ging - etwa die fünffache Menge von dem, was ich normal austrug.
Und dort, irgendwo in einem großen Haus an oder leicht hinter der Favoritenstraße, warteten sie wie die Geier an der Anlaufstelle für die Post aus der Heimat und verlangten von mir, dem völlig ahnungslosen Bürschchen sogar, dass ich zu einer fixen Zeit kommen müsse, so begierig war man nach Nachricht von daheim. So wenig waren sie hier angekommen.
Dieses Heim gibt es wohl nicht mehr, und wenn, dann nicht mehr in dieser Dimension. Die Gastarbeiter von heute ziehen zu und sind vergleichsweise um Eckhäuser integrierter, einfach weil sie nicht in einem an ein besseres Lager gemahnenden Heim sitzen, sondern am öffentlichen Leben teilhaben.
Neighborhood, klassenorientiert
Und das hatte einen seltsamen Mittelwert, als ich da gestern Abend runterspaziert bin, in Richtung Tichy-Eissalon, der logischen Anlaufstelle am Reumannplatz. Es war lau und knapp nach 10 Uhr abends, aber das (von den Sozialromantikern) vielgerühmte und (von den Xenophoben) vielgehasste Draußen-Lebensgefühl gab es nicht. Auf dieser Hauptstraße war auch nicht mehr los als auf jeder anderen in Wien. Selbst in den Lokalen, die Schanigärten oder sehr offene Türen hatte - kein ansteckender Lärm, nur ganz normale Betriebsamkeit.
Letztlich das, was man eine mixed neighborhood nennen kann: Nicht die ethnische Zugehörigkeit eint diese Menschen, sondern der soziale Stand, die altmodische Klasse.
So gesehen ist das, was man Integration nennt, in den letzten 20, 30 Jahren flott vorangegangen: vom segregierten Männerheim zu integrierten Wohneinheiten.
Etwa in der Mitte des Wegs, als ich nicht mehr der hinter mir mit ihrem sehr eifersüchtigen und sich extra dumm anstellenden Freund schimpfende junge Frau der 2. Generation zuhören konnte, weil sie abbog, ist mir dann eingefallen, was meine Eltern unlängst bei einem sonntäglichen Mittagstisch erzählt haben.
Das Jahrhundertwende-Wien
Nicht nur die Nationen/Ethnien-Sammlung, mit der unsere (aus Wien und NÖ stammende) Familie aufwarten kann, wenn man drei Generationen zurückgeht, sondern auch die Geschichten, die vor allem mein Vater über seine Großeltern erzählte. Die lebten in der Schlussphase der Monarchie in der boomenden Hauptstadt eines Riesenreiches. Der Boom war auf die Zuwanderung zurückzuführen, der die zunehmende Industrialisierung befeuerte.
Sowas wie "richtige Wiener" waren damals, sagt mein Vater und übertreibt sicher stark, in der Minderheit. Die Zuwanderer waren vor allem die Böhmen und Mähren, aber auch Ungarn, Slowaken, Serben, Kroaten, Unzuordenbare, die man schnell Zigeuner nannte, und eine Menge sogenannter Ost-Juden, aus diversen instabilen Ost- oder Südost-Staaten vertriebene oder ausgewanderte Menschen, die in der Stadt ihr Glück versuchten.
Aus dieser Mischung entstand gegen Ende und nach dem Zerfall der Monarchie eine explosiver Einwohner-Mix. Es gab den Adel, der entweder seine Schäfchen ins Trockene gebracht hatte oder verarmt war, es gab eine riesige Offizierskaste, für die gleiches galt, ein reiches Großbürgertum, teilweise jüdisch, teilweise katholisch, einen Mittelstand aus Handwerk und Kleinbürgern, eine Masse an billigen Arbeitskräften (die sich vor allem aus den Einwanderern speisten) und ein großes Potential an dem, was man heute Creative Industries nennt, Künstler, Forscher und kreative Gauner, die neue Geschäftsfelder entdeckten.
Der durch diese Mischung logische Vorwärtsdrang einer Gesellschaft, die sich noch dazu mit neuen politischen Umgangsformen befassen musste, kulminierte nicht nur in grandiosen Kunst- und Wissenschaftsleistungen, sondern auch in einer damals weltweit führenden und heute noch als vorbildhaft gehandelten Kommunal-,Wohnbau- und vor allem Gesundheits-, Bildungs- und Kultur-Politik, der des sogenannten Roten Wien.
Vom roten Wien zum toten Wien
Das Funktionieren dieser Lebendigkeit war den damaligen politischen Gegenläufern, nationalistischen und strukturkonservativen Kräften, die von der neuen "sündig-urbanen" Zeit überfordert waren und "Blut&Boden"-Thesen mit rassistischem Überbau nachhingen, ein Dorn im Auge.
Hitler entwickelte seinen Hass gegen Juden, multikulturelle Strukturen, Fremdsprachige und internationalistisch Denkende in seiner Zeit in Wien, als er als wenig talentierter Maler Schilder für Milchgeschäfte fertigte.
1945 hatten er und seine ideologischen Bundesgenossen Wien ebenso wie viele andere Städte im "Reich" dort, wo man es haben wollte: frei von Intelektuellen, frei von einem jüdischen Bürgertum, frei von linken Sozialdenkern, frei von Künstlern, frei von jenen, den man das "Ausländer-Sein" schon am Gesicht ansieht.
1945 waren es zu 80 % die Blockwarte, die Wien definierten, die Mitläufer, die sich in der acht Jahre dauernden Phase, in der Österreich Teil des geplanten 1000-jährigen Reichs war, auf Kosten der Ermordeten und Vertriebenen bereichtert hatte, die Arisierer und Parteigünstlinge, die Herrn Karls.
Da niemand die Vertriebenen zurückholte oder -bat (weil die Blockwarte quer durch alle Parteien froh waren, die Anstrengenden, die Querdenkenden und die "Anderen" los zu sein) sackte Wiens Status ins Bodenlose: von der Stadt Freuds, Klimts und Poppers zur Stadt von Harry Lime und Borodajkewycz.
Denn natürlich kann sich aus einem zerstörten Gen-Pool, einer zerstörten Infrastruktur und dem Willen sich Einflüssen von "Außen" zu verschließen, keine wirklich relevante Szene entwickeln, in keinem Bereich.
Das zu beschützende Erbe...
... von dem so gerne die Rede ist, bei Populisten und Heimat- und Schollen-Experten aller Art, existiert gar nicht.
Es ist nichts schützenswert an der durch das Zusammenschrumpfen der Welt in seiner Absurdität immer deutlicher bloßgestellten Einbetoniererei, an einer Welt ohne Fenster.
Und für eine Immer-noch-Großstadt wie Wien ist es überlebensnotwendig Leute reinzuholen, die die schlechtangerührte Suppe mit ihrer Hochwertigkeit aufpäppelt. Es geht nicht nur um Würze, es braucht eine Auffrischung.
Eine wie zur Jahrhundertwende, als eine verschnarchte Stadt durch kulturellen Input zu einer Welt-Metropole wurde und Maßstäbe setzte. Auch wenn sich die vormalige Mehrheitsgesellschaft dabei hundertmal "fremd im eigenen Land" vorkommt. Survival of the fittest, baby.
Dafür ist meiner Meinung nach ein offensives, sogar aggressives Werben nötig.
Kein Auswanderer, kein Emigrant, kein Asylant, kein Flüchtling will nach Österreich.
Das Land gilt maximal als Drehscheibe für den Absprung in ein wirkliches Zielgebiet. Die Menschen aus aller Welt, die es nicht mehr in ihrer Ursprungsheimat hält, weil sie zu eng, zu weit, zu unterentwickelt, zu politisch eng, zu mörderisch, zu dumpf ist oder sonstwie jeglicher Entwicklung im Wege steht, diese Menschen wollen in die USA, nach Kanada, Australien oder ein anderes der Auswanderungszielländer.
Nicht, weil die so toll sind - sondern weil ihr Image sagt, dass man (theoretische) Freiheit hat und dann, wenn man etwas auf die Beine stellt, akzeptiert wird.
Die Image-Lücke
Österreich hat dieses Image nicht - woher auch?
Österreich gilt als verkniffen, verhinderisch und unterschwellig xenophob. Hier kann man noch so lange saubere Arbeit leisten, man wird (als Ausländer) immer wie Abfall behandelt.
Diese Gefühligkeit reist mit jeder Scheiße, die hierzulande passiert, wieder per Mundpropaganda durch die Welt.
Und nein, es hat nix mit gemeinen alten Nazi-Zuschreibungen zu tun, sondern damit, dass die Nachfahren der Blockwarte dieses Denken eben nie abgelegt haben - weil eine Entnazifizierung (wie sie z.B. Deutschland durchlaufen hat) hier nie stattgefunden hat, weswegen die Rudimente so unverrückbar sind, das Xenophobe, das Rassistische so tief drinsteckt in den Unreflektierten.
Und deshalb bleiben hier die Zuwanderer picken, denen das entgegenkommt. Und der andere große Vorzug: dass man mit Matschkern, Jammern und Schmähführen auch irgendwie über die Runden kommt, bequem und ohne Anzuecken.
Es (besser: die österreichische Gefühligkeit) hält also in allererster Linie solche Menschen hier. Die sind, egal wo sie herkommen, immer schon Österreicher gewesen, ohne es zu wissen.
Die "guten" Ausländer, von denen gern die Rede ist, gegen die niemand was hat, weil es ja nur um die "bösen" Ausländer, die Einschleichdiebe, Handtaschenräuber und Scheinasylanten geht. Die es auch gibt, die überall ihr Unwesen treiben, und an zu vielen Orten Hetzern die Chance geben zu verallgemeinern und die angesprochenen Rudimente der zahllosen Sleeper im Lande direkt anzupeilen.
Aus den "guten Ausländern" rekrutieren sich die vielen Zuwanderer, die sich von den Populisten so gut vertreten fühlen, weil die dagegen sind, dass "neue" Auswanderer kommen, die ihnen, den mittlerweile Eingesessenen, den Platz streitig machen könnten. Das ist nichts als ein Deal auf Zeit, hat keinen ideologischen Hintergrund - und erinnert zurecht an die Blockwarte-Mentalität.
Es ist ein Teufelskreis: wo Tauben sind, fliegen eben nur Tauben zu, aber keine anderen Vögel.
Die sozialromantische Sicht auf die Zuwanderer muss aufhören: Das sind in ihrer Mehrheit auch nur die blockwärtig Denkenden ihrer jeweiligen Heimat.
Um die neuen Bürger werben
Und genau die anderen, die, die "the land of the free" oder sonstwas Zielgerichtetes im Kopf haben, wenn sie sich aufmachen, die Armseligkeit ihrer Herkunftsnation zu verlassen, weil sie sich nicht mit Mittelmaß, Unterdrückung oder Behinderung zufrieden geben wollen, die braucht Österreich, die braucht vor allem Wien (weil Wien immer vorangehen muss, wenn es um Entwicklungen geht).
Da es für eine Trendumkehr im Image, in der Gefühligkeit, Jahre brauchen würde, sind Initiativen gefragt, die Aufsehen erregen, weltweit - die die Vifen, Innovativen und Schlauen ansprechen, egal aus welcher Weltgegend sie kommen. Und zwar mit einem erkennbar menschenfreundlichen Standort. Menschenfreundlich, nicht inländerfreundlich.
Denn die bewussten Inländer der alten Sorte haben außerhalb der Terrorzeit des Nazireichs nichts, worauf sie sich berufen könnten; ihre kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften lassen sich an einer Hand abzählen.
Der Mensch, das wusste der arme Maler Hitler zu seiner Zeit noch nicht, ist eine einzige gemeinsame Rasse, die große weltweit einigende Klammer ist der soziale Status.
Und aus dieser Nummer, aus diesem Kochen-im-eigenen-Saft, aus diesem Denken/Handeln, sich immer nur mit Seinesgleichen zu verstärken, müssen wir raus.
Dringend.
Das bedingt einen beidseitigen Prozess.
Die politisch, aber vor allem die ökonomisch Verantwortlichen (die das alles wissen, aber nur sudern und jammern, aber nichts unternehmen, weil sie politisch so viel Angst haben) auf der einen Seite - und der Rest derer, die das Blockwart-Gen nicht in sich tragen oder es endlich, als grausigen Ballast der Geschichte, loswerden wollen.
Und ich weiß grad nicht, welcher Gruppe ich das weniger zutrauen soll.