Erstellt am: 31. 7. 2009 - 16:00 Uhr
Sziget Festival - eine Vorschau in fünf Traum-Akten
Mittwoch, 12. August 2009:
Als ich an der Schnellbahnstation Filatorigát im Norden Budapests aussteige, knallt mir die Sonne ins Gesicht und die gute Laune der Menschenschlange vor dem Eingang in die Ohren. Mit meinem Eintrittsbändchen am Handgelenk spaziere ich über die alte Eisenbahnbrücke, die über die Donau auf die Óbudai Insel führt. Von den Einheimischen wird sie immer noch Hajógyári Sziget genannt, nach der Schiffswerft, die hier einmal in Betrieb war. Die Einheimischen kennen sich aus. Sie wissen schon, dass heuer beim Sziget Festival einiges neu ist. Ungarische Medien haben berichtet. Der Gelände-Übersichtsplan aus dem Vorjahr, den ich streberhaft eingepackt habe, nützt mir nichts mehr. Die Talentsucher-Bühne für junge ungarische Bands ist verschwunden. Die Pop-Rock-Bühne und das Metall-Zelt wurden zusammengelegt. Die Hauptbühne, die in diesem Jahr nur noch von internationalen Bands bespielt wird, ist aber noch an ihrem Platz. Die Weltmusikbühne schräg dahinter auch noch. Gut. Während ich mit einem Loch im Bauch und wegen der Fülle des Angebotes überfordert, die Gastro-Meile entlang spaziere, treffe ich meine Freunde Martina und Peter. Wir haben uns lange nicht gesehen und viel zu erzählen. Letscho mit Würstel und Weißbrot mampfend, verpassen wir fast das Konzert von Snow Patrol.
Konzerte: IAMX, Nouvelle Vague, Snow Patrol, Lily Allen, Calexico, Beatrice (HU), Pál Utcai Fiúk (HU)
Donnerstag, 13. August 2009:
Ein positives "Fuck you" hallt immer noch in meinem Kopf nach. Lily Allen, die ich bisher vor allem aus Klatschmagazinen beim Zahnarzt kannte – "Lesbisches Liebesabenteuer", "Nippel Attacke bei Video-Dreh", "Saufgelage mit Noel Gallagher im Flugzeug!" – hat mich verzaubert. Und so ist es mir auch egal, dass ich das, was ich suche nicht gleich auf Anhieb finde. Die Berliner Mauer. Zum 20-jährigen Jubiläum haben die Festival-Veranstalter eine Mauer am Festivalgelände aufstellen lassen, die von heimischen Künstlern bemalt wird und dann als Kunstwerk irgendwo in Ungarn dauerhaft stehen bleiben soll. Hobbykreative können mitgestalten. Ich male meine Hand auf die Mauer und merke mal wieder, warum ich nicht Malerin geworden bin. Der Mann neben mir dagegen hat wesentlich mehr Talent. Nach Minuten des zögerlichen Rüberschielens, wird mir klar warum. Der unscheinbare Typ mit den dunklen Sonnebrillen ist Jules De Martino, ein Teil der Elektro-Poper The Ting Tings und ehemaliger Kunsthochschulstudent, der nicht nur an der Mauer, sondern auch am Schlagzeug eine gute Show abzieht. Und weil Campino so sympathisch ist, schau ich mir auch noch die Toten Hosen im Anschluss auf der Hauptbühne an.
Ting Tings
Konzerte: Miss Platnum, The Ting Tings, Die Toten Hosen, Vive La Fete, Tricky, Quimby (HU)
Freitag, 14. August 2009:
Mir ist schlecht. Zu viel Pálinka (= ungarischer Schnaps) und fettiger Langos haben mir den Magen verdorben. In Ungarn trinkt man nämlich Pálinka, wie bei uns guten Wein. Man nippt ihn genüsslich und sagt auch nach dem dritten Stamperl nicht „Nem köszönöm“. Obwohl zur Hälfte ungarisches Blut durch meine Adern fließt, werde ich mich nicht daran gewöhnen. Mein Freund Bálint hat mir vom Hungaricum Dorf erzählt, das neu ist beim Sziget. Eine große Wiese, auf der man ins ungarische Landleben eintauchen kann und von Beauftragten des Tourismusamtes mit Salami und Paprika geködert wird. Auf der man Einführungen in die ungarische Geisteshaltung bekommt und sieht wie eine traditionelle Hochzeit funktioniert. Ich bin skeptisch. Der Nationalismus in der ungarischen Bevölkerung ist groß und Demonstranten, die nach der Rückkehr Großungarns rufen, haben Schlagzeilen gemacht. Ist das der richtige Zeitpunkt für ein Hungaricum Dorf auf einem Festival? Aus den Lautsprechern tönt Volksmusik. So ganz gefällt mir das alles nicht. Deshalb lege ich mich in der Nachmittagssonne in die Wiese und sehe den Menschen zu, die sich abenteuerlustig über ein Klettergerüst quälen und im Ability Park mit dem Rollstuhl über eine Hindernisbahn fahren. Menschen mit Behinderung – sie haben am Sziget Platz, denn das gesamte Gelände ist barrierefrei und behindertengerecht gestaltet. Die Stadt Budapest kann sich hier noch einiges abschauen.
Die Reste des Pálinka endlich rausgeschwitzt, mache ich mich auf zur Hauptbühne. Heute bin ich auf musikalischer Entdeckungsjagd. Die Band Haydamaky aus der Ukraine verwurstet Reggae, Ska und Punk, mit Akkordeon und einer kleinen Flöte. Unter meinen Füßen wirbelt Staub auf. Im Gras sitzt eine Gruppe junger Menschen mit Dreadlocks und Trommeln und klopft sich in Ekstase. Zur Abkühlung und zum Sauberwerden springe ich in den Swimmingpool und dann weiter zur A38-WAN2 Bühne (teils nach dem feinen Partyschiff A38, das weiter südwärts die Donau ankert, benannt), wo gerade Anima Sound System zarte Elektromelodien in den Abendhimmel schicken.
Konzerte: Haydamaky, Primal Scream, The Prodigy, Anima Sound System (HU), Amadou & Mariam, Erik Sumo Band (HU), Kerekes Band (HU)
Primal Scream
Samstag, 15. August 2009:
Das Wetter und das Stimmungsbarometer zeigen Höchsttemperaturen an. Meine Beine tragen mich noch, nur mein Hirn braucht langsam wieder Futter. Deshalb werde ich heute spielen. Gleich neben dem Roma Zelt, das heuer vergrößert worden ist, liegt das Logical Games Zelt. Da drinnen ist es richtig heiß, in doppeltem Sinn. Bei Schach, Sudoku und Poker fängt mein Kopf fast zu rauchen an. Aber ich fühle mich danach wieder fitter. Gut, denn die Editors spielen schon auf der Hautpbühne, dahinter machen sich die Klaxons warm für ihren Auftritt. Brian Molko von Placebo habe ich auch schon gesehen. Was für ein Staraufgebot heute am Sziget! Weil ich aber unmöglich sechs Stunden lang durchgehend Live-Konzerte schauen kann und mich sowieso keiner der Musiker auf einen Kaffee einladen wird, gehe ich ein bisschen Tischtennis spielen. Für die Meisterschaft, die jeden Abend ab 20 Uhr stattfindet, fühle ich mich dann doch nicht gut genug. Und außerdem stehen ja schon die Manic Street Preachers auf der Bühne.
Konzerte: Editors, Klaxons, Manic Street Preachers, Placebo, The Notwist, Romano Drom, Belga (HU)
www.tessaangus.com
Und wovon träumst du? – Vom Gewinn von Sziget-Festivalpässen zum Beispiel? Manchmal gehen Träume ja in Erfüllung: Sonntag, 2.8., Festivalradio, ab 13 Uhr.
Sziget Festival 2009, Óbudai Insel, Budapest, 12.-17. August
Sonntag , 16. August 2009:
Heute ist der letzte Tag des Sziget Festivals, und ich bin ein bisschen wehmütig. Man kann sich an das Leben in der Festivalstadt durchaus gewöhnen – an die Grasflecken auf der Hose, die miefenden Dixie-Klos und das ungesunde Essen. An die schnarchenden Zeltnachbarn und die vielen Menschen, die aus der ganzen Welt hierher gereist sind. Und vor allem an die große Auswahl an Musik. Zum Frühstück Jazz, zum Mittagessen Hip Hop und zum Abendessen New Wave, dazwischen ein paar Heavy Metall-, Gypsie- und Pop–Snacks. Heute werde ich den ganzen Tag auf der etwas abseits gelegenen MR2 Bühne (die den Namen des jungendlichsten Radiosenders des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Ungarn trägt) verbringen. Dort spielen ausschließlich Bands aus Ungarn, und meine Freundin Ági hat mir einige davon empfohlen. Die Indie-Band Amber Smith zum Beispiel, die schon große Europa- und Japan-Tourneen hinter sich hat, und die immer wieder mit internationalen Produzenten zusammenarbeitet. Robin Guthrie von den Coucteau Twins hat das 2004er Album produziert, Chris Brown, der schon für Radiohead und Paul McCartney gewerkelt hat, das 2007er Album. Ihre Musik ist etwas düster und melancholisch – für den letzten Festivaltag also irgendwie passend. Abgelöst werden Amber Smith von den Reggae-Paten der Irie Maffia, die bei all ihren Konzerten vor allem gute Stimmung verbreiten. Heaven Street Seven danach laden mit launigem Gitarrenpop zum Rumhüpfen ein und wärmen mich und die anderen, vor allem ungarischen Tanzköpfe, für die Headliner, das Pannonia Allstars Ska Orchestra, auf. Das aktuelle Album der 11-köpfigen Truppe ist in den letzten Monaten in meinem CD-Player rauf und runter gelaufen. Nach dem Konzert weiß ich warum. Weils einfach fetzt. Live noch viel mehr als auf Platte.
Konzerte: Maximo Park, Faith No More, Turbonegro, Amber Smith (HU), Irie Maffia (HU), Pannonia Allstars Ska Orchestra (HU)