Erstellt am: 25. 7. 2009 - 19:53 Uhr
Journal '09: 25.7.
"Folgst du Gerd Leonhard? Der ist schon ein Stück weiter als Reznor in dem Thema!", schreibt mir Niko Alm, der brandgefährliche Atheist, der Teile der Kirche und der ihnen verbundenen Medien mit seinen gottesverneinenden Plakatideen vom Zustand der Schockstarre in den aktiven Widerstand getrieben hat.
Tat ich nicht, tu ich seither.
Reznor ist, das bin ich mit Alm einig, in Punkto "Popularität, Markthebel, Know-How mit Abstand am weitesten vorn." - wobei auch die jüngst vorbeiblickende Frau Gaga da recht upfront unterwegs ist.
Aber das ist mit dem, was der Schweizer Autor, Blogger und Medienfuturist Gerd Leonhard so an Ideen durch die Gegend schießt, natürlich nicht zu vergleichen.
Denn während sich Reznor, wie es seine unvergleichliche Art ist, an den Untiefen der Realität versucht, kostet Leonhard die Möglichkeit aus sich an Abschätzungen für die nächsten paar Jahre zu versuchen; ganz ohne sich ein Recht auf Wahrheit oder Eintreten auszubedingen.
Es geht ums Aufrühren von Ideen-Proteinen. Wie sie schmecken und ob sie in Produktion gehen - mal sehen.
Leonhards Ideen-Proteine
Leonard ist Schweizer, also bloggt er in english.
Und er kennt die Szene mit der man ihn in einen Topf werfen kann, wenn man böswillig ist (und ein paar Prozent-Flankerl Böswillige gibt es in jedem Forum), und hat deshalb eine kurze Beschreibung dessen was er tut, ausgeheckt: "1) Understanding trends, new ideas, shifts, changes, recent developments, people and cultures. 2) Imagining and presenting future scenarios and 3-5 year fore-sights based on that understanding.", um sich vom Horxismus abzusetzen.
In seinem schönen Blog mediafuturist.com hat der Weltreisende in Sachen Keynote-Speech für neue Ideen jüngst, am 20. Juli, 12 Lieblings-Punkte festgemacht, 12 Thesen, die er nach Dawkins Memes nennt - und das geht weit über den vorhin zitierten Musikansatz hinaus.
Im folgenden also die Kurz-Version von Gerd's Favorite Memes.
The End of Control
Ist eine offensichtliche Sache, aber wert betont zu werden und auch richtigerweise auf Platz 1 dieser nicht in Ranking-Form zusammengestellten Liste: "The fact that no matter which business you are in, having total control is no longer the single most important factor that impacts financial or material success. Yes, more control equalled more money for a long time - but now, in the inter-connected digital economy, the concept sounds like wishful thinking. In fact, it seems much more likely that in the future, the more control we desire and push for the less successful we will be!"
Das Ende der Konstrukts der Kontrolle ist nicht nur das zentrale Problem des Geschäftsmodells Web-Media, sondern auch der immer noch stark vorherrschende Irrtum der immer noch starken Frontalunterricht-Fraktion, egal ob das politische Seiten/Entwicklungen oder Botschafts-Vermittlung betrifft.
Paying with Attention.
Ein "key trend", sagt Leonhard, einer der "drastic changes" nach sich ziehen wird.
Und die Umkehrung von "Buying Attention", dem alten Modell auf dem Werbung, Marketing und PR basiert.
Das geht so: "advertising as interruption is finished, and advertising as engagement, conversation and yes, advertising as content (and vice-versa), is where things are going - and quickly."
Das setzt eine heftige Umkehr im Denken voraus. Aber: "since a lot more content & media companies are now looking to get paid via, from or through that huge fire-house of ad-money that will stem from next-generation and mobile marketing, maybe this will work out much quicker than we are currently anticipating."
Feels Like Free and Freemium.
Hier zitiert Leonhard das hier im Journal vor zwei Wochen behandelte Buch "Free" von Chris Anderson dem Erfinder der Long-Tail-Theorie.
Leonard: "If more and more things-that-used-to-be-paid-for become free because of disruptive technologies that Billions of people are starting to adopt, what will happen to those tried-and-true business models that still underpin all of those companies that are serving these sectors today?"
Wobei sich Free ja noch im Postulats-Stadium befindet - und z.B. auch der Long-Tail gerne beeinsprucht wird - danke an Philip P. an dieser Stelle.
Friction is Fiction.
Klingt nicht nur gut.
Wenn dein Business-Modell darauf basiert, dass die "People formerly known as consumers" nur deshalb gehalten werden konnten, weil sie keine andere Chance haben, das Produkt anderswo zu bekommen, dann steckt es schon tief in der Krise.
"This goes for the music industry, the news / print / publishing business, telecoms, marketing and advertising agencies and for the Radio / TV / Broadcasting giants: as soon as someone, sometime, somewhere finds a way to reduce or completely remove that friction, your old model is history."
Mit anderen Worten: das, was uns in den letzten Jahren an Kasperltheater der Musikindustrie vorgeführt wurde, wird in den nächsten Jahren - mit viel weniger Getöse und Begleitmusik, sondern mit einer unverfrorenen Selbstverständlichkeit, die sich auf den Referenz-Fall berufen wird, auch in den anderen Unterhaltungs-Märkten passieren.
The People formerly known as Consumers
Klingt noch besser.
Leonhard nennt es, eine neue, eine "harsh reality".
"Clearly, consumers have already become users, pro-sumers, content co-creators, followers, influencers... but now their power is growing every single day. It's the USERS, and to be more precise, the KIDS, that are in charge now."
Selbst wenn das, zumindest in Österreich nicht ganz richtig ist, und da das "now" durch ein "demnächst" ersetzt werden muss: der Vorgang des "Verkaufs" unterliegt einer drastischen Veränderung.
Data is the new Oil
Damit ist nicht der Star-Trek-Android gemeint, sondern the thing formerly known as content.
Und Leonhard setzt noch einen drauf, halbironisch: "... and linked data is even better oil."
Und dann führt er einen ganz interessanten Punkt aus, den ich komplett nachvollziehen kann, dessen Verwertbarkeit ich aber in Frage stellen möchte.
Leonhard sagt: "I see a solid trend towards a continuous increase of the monetary value of the data that all of us are generating every time we connect, click on a link, share a video, post a message, embed a photo, send an SMS, rate a product or simply go from one page to another. Everyone wants this data, in it's purest, most unfiltered and 100% privacy-ignorant form, if possible, because it tells a story about who we are, what we like... and what we may purchase or otherwise pay attention to. Call it the click-stream, the digital bread-crumbs or the cyber-exhaust - the more we interact online, the more we share, the more we communicate via the Net, the higher the value of this data - it is indeed the glue for transactions, which in turn is the glue of, well, pretty much all business..."
Ja, eh - aber wie?
Finding and being found.
Leonhard zieht Schlüsse aus der "recent explosion in accessing the Net via smart mobile devices - this is taking on a whole new meaning. Soon, if your business can't be found very easily on Google Maps and on 1000s of location-aware mobile phone applications, it will pretty much mean that you don't really exist - you are virtually a secret."
Das erinnert mich an das vom von Stanley Morgan beauftragten 15-jährigen Praktikanten hier prognostizierte Ende des klassischen Directories und dem daraus folgernden Problem der Sichtbarkeit.
Und das schlägt sich nicht nur im Business-Bereich nieder, sondern auch in allen anderen um Aufmerksamkeit buhlenden Genres. Wird ein Kern-Problem werden.
The real-time web.
Wie wird der nächste Schritt aussehen?
Bislang dachte man an ein zunehmend intelligenter werdenden Such/Sammel/Assistent/Special Interest-Modell.
Jetzt ist offensichtlich die Realzeit der drängendere Ansatz.
Schuld: Facebook, Twitter und Co.
Und entscheidend dürfte tatsächlich sein, was der Quasi-Monopolist macht: "In any case, this seems to one of Google's main new challenges."
ECOsystem not Egoystem.
Die Idee stammt von Umair Haque vom Havas Media Lab.
"We are in the midst of a tremendous shift in the very fabric of our society, away from the 'good' old paradigm of extreme capitalism and economic egoism, and towards the idea of a new, interconnected, collaborative, interdependent Ecosystem that allows or rather forces us to generate new revenues and new benefits, together, rather than pursue only our own agenda."
Klingt nach einem Ansatz für einen dritten Weg.
Verdient intensivere Beschäftigung - demnächst mehr dazu.
Daran schließt auch der nächste Punkt direkt an:
The 21st Century Content Ecology.
Das ist vage und meint dieses: "This is a term I like to use when thinking about a new logic that underpins all content and media business models going forward: web-native, inter-connected, ubiquitous and friction less, i.e. liquid. To define these new economics is a major job, indeed."
Klingt nach einem Jahrzehnte-Job.
Open is King.
Hängt mit Punkt 1, dem Ende der Kontrolle, besser der Kontrollmöglichkeit, zusammen.
Leonhard sagt: "Open software, open mobile platforms, music without DRM, open codecs, open collaboration platforms, open APIs - open is faster and better, more competitive, more suitable for a digital society." Leicht, meint er, wird diese Umstellung nicht. Gegen das Offene, das Freie gibt es so viele alteingesessene, aus 3.000 Jahren klassischer Geschäftemacherei resultierende Ressentiments - das in nur ein paar Jahren zu überkommen, ist ein durchaus harter Knochen.
Im Übrigen klingt das wie die Erfüllung der Star Treks Next Gen-Gesellschaftsmodells.
Lubricating the digital economy
das hält Leonhard für das Gebot der Stunde.
Nicht weil damit sein Steckenpferd gefördert würde, sondern weil es "the biggest opportunity for a lot of players in the Telecom/Media/Technology space" sei.
"With an ever increasing amount of our data, our content, our contacts, our resources and our work online, we will need faster connections at lower costs, easier and cheaper payment methods, more personalizable and customizable offerings, better bundle and flat-rate deals."
Einen derartigen Wachstums-Markt zu befüttern hält Leonhard für ein "winning model!".
Der Markt, das Business
und all die Begriffe, die Leonhard in seinen Thesen, wie den hier zusammengefaßten 12 Punkten einsetzt, um damit auch das Interesse der Industrie anzustochern, lassen sich oft und gerne ersatzlos streichen und durch "öffentliches Interesse" ersetzen. Natürlich wird jemand, der sich in einerm schwierig einzuschätzenden Zukunftsmartk verkaufen muss, den Teufel tun und das raushängen lassen. In dieser kleinen, aber feinen Diskrepanz lügt sich die Branche also durchaus noch in den eigenen Sack.
Das macht die Thesen, Sorry, die "Memes" aber nicht weniger bedenkenswert. Und sei es nur, um eh schon Gewusstes einmal durch einen anders funktionierenden Kopf überprüfen zu lassen.