Erstellt am: 8. 7. 2009 - 15:55 Uhr
Slumdog Mathare
Text: Johannes Meinhart
Fotos: Stefan Hofer & Johannes Meinhart
Das Text erscheint auch in der neuen ballesterer-Ausgabe Nr. 43 (Juli 2009)

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Außerdem in dieser Ausgabe:
- Wohin des Weges?: Die Erste-Liga-Reform ist abgesagt, die Diskussion geht weiter
- Bewusst unbewusste Avantgarde: Grafikdesign in Österreichs größten Kurven
- Groundhopping: Bayrische Trockenschwimmer und geplatzter Hool-Terroristen-Showdown
- Dr. Pennwieser: Arnautovics müde Knochen
Der kenianische Meistertitel 2008 ist der vorläufige Höhepunkt der Mathare Youth Sport Association (MYSA), Dachorganisation der Profimannschaft Mathare United.
Die Enttäuschung über das klare Scheitern in der ersten Runde der CAF Champions League gegen den Meister aus Sambia, Zesco United, hält sich in Grenzen. Mit einem 0:2 in Ndola und einem 1:3 in Nairobi feierte Mathare United nur ein kurzes Debüt in der afrikanischen Eliteliga. Diese Gefühlslage teilt auch George Mwangi, Nachwuchskoordinator von MYSA: Das Niveau der kenianischen Liga sei passabel, aber das Ausscheiden komme nicht unerwartet. "Schau dir die Burschen an, sie sind jung und international unerfahren, viele von ihnen sind kaum 20 Jahre alt."
Es ist drei Uhr nachmittags, wir sitzen im Kaserani-Stadion, der Spielstätte von Mathare United, und verfolgen das große Derby gegen die City Stars. Tempo und Technik begeistern uns, allein im taktischen Bereich scheint nicht alles optimal zu laufen. Mathare, der regierende Meister, tut sich schwer. Die wenigen Chancen werden spektakulär vergeben. In das 65.000 Sitzplätze fassende Stadion haben sich keine 500 Zuseher verirrt. Dabei hat Mathare mit Sicherheit die größte Fanbasis in ganz Kenia. Etwa 600.000 Einwohner leben im Mathare-Slum knapp außerhalb Nairobis. United ist ihr ganzer Stolz. Aber kaum einer der Fans kann sich die umgerechnet 50 Cent für die Karte, geschweige denn einen Euro für die Anreise leisten.

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Vor zehn Jahren war Mathare einzig Sinnbild für Kriminalität, Gewalt und Prostitution in Nairobi. Der Kern des Slums befindet sich im Mathare Valley, einem Tal von rund 300 Metern Breite und zwei Kilometern Länge. Alleine in diesem Bereich leben rund 200.000 Menschen in dicht aneinandergereihten fensterlosen Hütten. Diese Verschläge aus Wellblech oder Holz messen durchschnittlich drei mal drei Meter und beherbergen oft bis zu zehn Menschen. Im Slum gibt es keine befestigten Straßen, keine Wasser- oder Stromleitungen und kein Abwasser. Während der Regenzeit versinken die Behausungen in Dreck und Schlamm. Von den Fluten werden oft nicht nur die Behausungen weggerissen, sondern auch deren Bewohner.
Am äußersten Rand des Slums leben die Ärmsten der Armen in Pappkartonunterkünften. In Mathare ist jeder Dritte mit HIV infiziert, die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal, Arbeit gibt es kaum. Klebstoff schnüffelnde Straßenkinder, Kriminalität und Gewalt gehören zum Alltag. Wo kaum ein Mann seinen 25. Geburtstag erlebt, hat MYSA tausende Kinder mit Fußball von der Straße geholt.

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Trophäensammler und Nobelpreisanwärter
1987 kam der kanadische UNO-Mitarbeiter Bob Munro in den Mathare Slum. Während eines Rundgangs führten ihn Straßenkinder zu ihrem Fußballfeld, das mit Glasscherben und Müll übersät war. "Ihr macht den Platz sauber, ich kaufe einen neuen Ball, dann wird gespielt", soll er damals gesagt haben. Mit diesem simplen Satz war das MYSA-Prinzip geboren. Seitdem versucht MYSA, Jugendlichen mit Hilfe des Fußballs Sozialkompetenzen und Bildung zu vermitteln. Neben einer organisierten Jugendliga bietet die Organisation auch eine Reihe anderer Projekte und Aktivitäten an: Theater, Musik, Umweltschutz, Aids-Prävention und vieles mehr. Wer sich engagiert, bekommt Punkte. Besonders eifrigen Punktesammlern wird als Prämie das Schulgeld bezahlt.
Die erste Nachwuchsfußballliga der MYSA startete 1987 und umfasste 27 Teams. Ein Jahr später waren bereits über 120 Teams in verschiedenen Altersklassen am Start. Heute spielen über 18.000 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen neun und 18 Jahren in 1.200 Mannschaften in ganz Nairobi. Damit ist die MYSA-Jugendliga die größte Afrikas. Seit 1992 werden auch Mädchen aufgenommen. Anfangs noch belächelt, stellen die Spielerinnen schon ein Drittel aller MYSA-Teams. Der große Schritt folgte 1994 als eine Profimannschaft gegründet wurde, in der die besten MYSA-Spieler aufgenommen werden. Als Tribut an das große Vorbild aus Manchester tauften die jungen Sportler ihr Team Mathare United.

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Der sportliche Erfolg bestätigt das Projekt: Nur vier Jahre nach der offiziellen Gründung stieg der Verein 1998 in die kenianische Premier League auf. Der prall gefüllte Trophäenschrank im schlichten, grün-gelb gestrichenen Klubhaus am Rand von Mathare zeugt von zahlreichen Erfolgen bei internationalen Jugendturnieren. Davon abgesehen kann sich MYSA und damit auch Mathare United als einziger Fußballverein der Welt rühmen, schon zweimal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden zu sein.
Schuhe aus dem Verleihkasten
Die Profis von Mathare United sind für die Kinder der Slums wichtige Idole, denen nachgeeifert wird. Reich werden sie durch den Fußball aber nicht, schließlich verdienen sie im Monat nur zwischen 100 und 300 Euro. Wenn mit der Gage für das Auskommen der gesamten Familie gesorgt werden soll, reicht diese oft nicht einmal, um dem Slum den Rücken kehren zu können. Außerdem müssen die Profis, ebenso wie alle anderen MYSA-Spieler, Sozialarbeit leisten. "Wenn ein Fußballstar zum Gebrauch von Kondomen aufruft, dann kann das in einem Slum wie Mathare, wo viele Kinder durch Aids verwaist sind, eine Menge bewirken", meint George Mwangi.
Auf dem Spielfeld besteht mittlerweile kein Grund zur Nervosität mehr, Mathare hat das Spiel in der zweiten Halbzeit mit einem Dreifachschlag innerhalb von sieben Minuten für sich entschieden, und wir können noch entspannt zur MYSA-Zentrale aufbrechen. Die Trainingsmöglichkeiten entsprechen nicht den Vorstellungen von einem Profiklub. Die Jugendlichen trainieren auf holprigen Plätzen, in der Trockenzeit sind sie knochenhart, in der Regenzeit bleibt der Ball im Matsch stecken. Es grenzt an ein Wunder, dass sich nicht in jedem Training jemand verletzt. Schuhe sind für die meisten Spieler ein Luxus, und MYSA kann es sich bei weitem nicht leisten, alle Straßenkinder auszustatten. Also holen sich die Jungs vor dem Training ein Paar Schuhe aus dem Verleihkasten und bringen sie danach geputzt zurück. "Wer hier Fußball spielen kann, der kann es auf der ganzen Welt", meint George grinsend. Er untermauert seine These mit ehemaligen United-Spielern bei europäischen Spitzenmannschaften: Edgar Ochieng zum Beispiel spielt mittlerweile bei AJ Auxerre, McDonald Mariga beim FC Parma.

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MYSA macht Schule
Auch im kleineren Mukuru-Slum, keine zehn Kilometer von Mathare entfernt, wurde 2002 eine ähnliche Initiative gegründet, die Mukuru Sports Association (MUSA). Der sportliche Erfolg der MUSA ist aufgrund der fehlenden finanziellen Möglichkeiten mit jenem der MYSA bei weitem nicht zu vergleichen. Immerhin spielt die erste Mannschaft schon in der zweiten kenianischen Liga. Gehälter können aber noch nicht ausbezahlt werden, die Spieler werden mit Mahlzeiten bei jedem Training entlohnt. "Wir bieten unseren Jungs ein Sprungbrett zu anderen Vereinen. In der Premiere League oder in den Nachbarländern wird schon anständig gezahlt. Bei den Spitzenvereinen in Tansania oder Uganda kann man um die 700 Dollar im Monat verdienen", sagt William Odongo, der sportliche Leiter von MUSA. Stolz ist der Verein auch auf Patrick Oboya, der es 2007 noch weiter geschafft hat. Er spielt in Tschechien beim FK Banik Most.
Verdiente Spieler bekommen die Chance, im Projektbereich des Vereins Verantwortung zu übernehmen. So auch der 20-jährige Raphael Ongorid, der Tormann der ersten Mannschaft. Er kümmert sich gegen Kost und Logis als "house father" in einem Wohnhaus für Straßenkinder um die Verpflegung und alltägliche Erledigungen der zehn- bis 14-jährigen Kids. "Die Möglichkeit, Fußball zu spielen, hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet", meint er. "Das tägliche Training hat mich von Kriminalität, Drogen und sonstigen Dummheiten ferngehalten. Ich hatte plötzlich die Perspektive, Profi zu werden, und habe mich voll auf den Fußball konzentriert."
Wenn du das MUSA-Projekt in Nairobi finanziell oder mit Sachspenden (Schuhe, Bälle, Dressen,…) unterstützen willst, schreib ein Mail an info@ballesterer.at.
Den Traum von Europa hat der Chelsea-Fan noch immer, aber es müsste nicht gleich die Premier League sein. Wie viele seiner Kollegen würde er sich auch mit einem Engagement in einer weniger prestigeträchtigen Liga mehr als zufriedengeben, vielleicht in Irland oder der Slowakei. Das mag damit zusammenhängen, dass die NGOs in Mukuru hauptsächlich aus diesen Ländern kommen. "Aber wer in Mukuru aufwächst, sollte nicht zu viel vom Leben erwarten", meint Raphael. "Wenn ich mich mit Freunden vergleiche, habe ich es auch hier gut erwischt."