Erstellt am: 6. 7. 2009 - 22:41 Uhr
Wer lebt, stört?
Am Freitag Abend bin ich nach Hamburg geflogen, A. besuchen. Die feiert ihren Geburtstag auf einer Hafenrundfahrt-Barkasse.
Rainer Springenschmid
Am Samstag war in Hamburg Schanzenfest. Flohmarkt, Straßenfest, Party im Schanzenviertel. Livebands, Capoeira-Vorführungen, Aktionskunst, Politik. In den letzten Jahren gab es im Anschluss immer Ausschreitungen. Die Stimmung ist trotzdem gelöst, von Aggressivität oder Angst nichts zu spüren. Ein paar tausend Menschen sind auf den Straßen unterwegs, Punks, Hippies, Bobos, Linke, Alternative, ganz normal aussehende Menschen. Ich frage mich, ob es hier mehr Alternative gibt als zum Beispiel in Wien. Ich weiß es nicht. Was man aber spürt, ist, dass sich bei den Menschen alternative Lebenskultur mit einem politischen Bewusstsein paart, so wie ich das in Österreich nicht kenne.
Seit ich vor fünf Jahren das letzte Mal hier war hat sich etwas verändert im Viertel; nicht viel, aber doch: Es gibt jetzt nicht nur alternative Läden hier, sondern auch schicke, dazu schon ein paar Ketten. Die Gentrifizierung greft auch hier, nicht annähernd so rasant wie zum Beispiel in der Brunnenmarktgegend in Wien, aber doch spürbar.
Rainer Springenschmid
Im Jahr 2002 begann der damalige Hamburger Senat, bestehend aus CDU, FDP und der rechtspopulistischen Schill-Partei, Bauwagenplätze zu räumen. Solche Wohnformen sollten in Hamburg nicht mehr geduldet werden.
A.s Freund C. erzählt, dass es einen Investor gebe, der kleine Geschäfte im Schanzenviertel, meist gut funktionierende Familienbetriebe, aus ihren Läden drängt. Der bietet, so erzählt C., den Hausbesitzern an, 1000 € mehr Miete zu zahlen als der aktuelle Mieter. Ob das wahr ist oder eine moderne Urban Legend, lässt sich auf die Schnelle nicht überprüfen, aber für mich klingt es zumindest möglich; nach allem, was ich bei meinem letzten Besuch von den Vorgängen um den Wagenplatz Bambule mitbekommen habe. Ganz sicher ist, dass die Autonomenszene rund um die Rote Flora das Investitionsklima im Gentrifizierungsgebiet stört. Und schließlich lässt sich auch in Hamburg mit Immobilieninvestitionen und Stadterneuerung viel Geld verdienen.
Wir sprechen kurz über die drohende Randale am Abend. C. meint, neben den ortsansässigen Autonomen seien sicher wieder reisende oder nicht reisende Eventkrawallos zu erwarten, ebenso wie Provokationen von Seiten der Polizei.
Rainer Springenschmid
Nach dem abendlichen Geburtstagsfest auf der Hafenbarkasse ziehen ein paar der Festgäste noch ins Jolly Roger, eine FC St. Pauli-Fankneipe nicht weit vom Schanzenviertel. Wir kommen auf unserem Heimweg immer wieder an Polizeiwagen mit Blaulicht vorbei, die das Schanzenviertel großräumig abriegeln. Dort laufen inzwischen tatsächlich die erwarteten Krawalle.
Am nächsten Tag beim Frühstück erzählt C. vom Leben als St. Pauli Fan, von Schikanen und Polizeiversagen bei Auswärtsspielen in Kiel und Rostock, von polizeilichem Pfefferspray im überfüllten Fanbus und von Beamten, die genauso gerne prügeln wie mancher Hooligan. Vor allem eine Polizeieinheit aus Eutin sei unter den Fans berüchtigt; nach einer Prügelorgie hätten sich sogar Stadionordner - normalerweise nicht eben für Fanfreundlichkeit gegenüber reisenden Sanktpaulianern bekannt - als Zeugen angeboten.
Prügel beim Abendbier
Rainer Springenschmid
Mitten in C.s Erzählungen klingelt A.s Handy. Nachrichten aus dem Jolly Roger: die Polizei hat in der Nacht Pfefferspray in die Kneipe gesprüht, dann seien vier Polizisten in Kampfmontur hineingestürmt und hätten auf die anwesenden Gäste eingeschlagen. M., Krankenschwester und Mutter einer zweijährigen Tochter, habe Hämatome am ganzen Körper, andere seien in den Keller geflüchtet und hätten sich Stunden lang nicht mehr hinaus getraut. Auch ins Wohnhaus über dem Jolly Roger sei Pfefferspray gesprüht worden.
M. war mir am Schiff als besonders nette, freundliche Frau aufgefallen. Nicht sonderlich politisch aktiv, meint A., zumindest nicht vor diesem Wochenende. Dass sie sich an Ausschreitungen beteiligt hätte, ist für uns undenkbar. Die Prügelpolizisten sollen einer Einheit aus Eutin angehören. Im St. Pauli Fanforum ist von den aufgeputschten Eutiner Koksbullen die Rede.
Als wäre nichts gewesen
Am nächsten Tag spaziere ich nochmal durchs Schanzenviertel. Glasscherben von zerbrochenen Flaschen liegen auf den Gehsteigen, aber vor den Cafés und auf den Straßen herrscht Betrieb als wäre nichts gewesen. Touristen, Sonntagsspaziergänger, ein paar Fotografen.
Mir kommen die Vorgänge rund um die Kopenhagener Anarcho-Siedlung Christiania in den Sinn. Hier wie dort geht es darum, dass funktionierende Strukturen, alternative Lebensmodelle, zerstört werden sollen, weil es ein paar Politikern nicht in den Kram passt, dass Menschen anders leben als der Durchschnitt.
Rainer Springenschmid
Und hier wie dort geht es auch um lohnende Investmentgegenden, die nicht zum Verkauf stehen, weil sich die Menschen dort nicht verkaufen möchten, weil sie bereit sind, erkämpften Raum zu verteidigen. Und weil es eine breite, politisch bewusste Öffentlichkeit gibt, der es wichtig ist, dass neben dem normalen bürgerlichen Leben, das viele von ihnen selber leben, auch Freiräume existieren, in denen nicht immer der gewinnt, der mehr Geld hat. Manche Menschen hingegen scheint es rasend wütend zu machen, dass es beste Lagen gibt, in denen nicht die Reichsten wohnen und Dinge, die sie für Geld nicht kaufen können.