Erstellt am: 3. 7. 2009 - 15:14 Uhr
"Is this adequate?"
Am Ende sind Städte sowieso nur Kulissen. Und die Ansammlung von zuckergussweißen Häuserblöcken namens Belgravia, die zwischen dem Hyde Park und der Victoria Station liegt, war gestern ausnahmsweise nicht bloß Schauplatz der lautlosen Paraden von Botschafter- und Oligarchenkarossen, sondern bevölkert von Gruppen erschöpfter Gestalten, die in rituellen Gesängen miteinander zu kommunizieren schienen.
„Oh my baby, oh my baby, oh my, oh why“ hallte es da aus einer Gasse, und genauso, nur zeitversetzt aus einer anderen, bis beide Horden aufeinander trafen und ihre Chöre verschmolzen, gekreuzt von einer weiteren, die dem kollektiven Wehklagen mit Optimismus begegnete: „It really really really could happen.“
Robert Rotifer
Man soll die Wirkung von Popkonzerten ja nicht überschätzen. Sie gehen vorbei. Obwohl dieses schon ein bisschen länger gedauert hatte als die meisten anderen, zweieinviertel Stunden nämlich, oder ungefähr 19 Jahre, je nachdem, wie man das sehen will. So lange ist es jedenfalls her, dass „She’s So High“ in Blurs gestrigem Set als Single herauskam. Und mit diesem, so wie mit den 24 anderen Songs, die die Band gestern Abend spielte, war seither einiges passiert. Sie haben ihr eigenes Leben geführt in den Köpfen all der Leute, die dazu nun so enthusiastisch ihre Hände in die Lüfte reckten.
100 x die magischen 500
Ich kann mich erinnern, wie ich Blur denselben Song 1992 auf der Rollercoaster-Tour (mit The Jesus & Mary Chain, Dinosaur Jr, My Bloody Valentine) vor einem Indie-Fundamentalisten-Publikum spielen sah, das dem fast schon verzweifelt übermütigen Auftritt einer zu jener Zeit, ein Jahr vor „Modern Life Is Rubbish“, zwei vor „Parklife“, bereits abgeschriebenen Band nur begrenzte Aufmerksamkeit gönnte.
Gestern Abend hätte man glauben können, die Nummer wäre immer schon eine Hymne für die Massen gewesen.
Robert Rotifer
Ein kurzer Schlenker noch, bevor wir endlich aufs Konzert selbst zu sprechen kommen: Ich erinnere mich auch an ein Gespräch mit Graham Coxon vor ein paar Jahren, als er gerade von einer Tour als Vorband der zu jener Zeit ihren Durchbruch erlebenden Kaiser Chiefs zurückgekehrt war. Die Gigs in großen Hallen, zu denen Eltern mit ihren kleinen Kindern anrückten, hatten ihm wieder bewusst gemacht, wie unbefriedigend es gewesen war, in einer in den Mainstream vorgedrungenen Band zu spielen.
Wenn man ein Publikum erreichen wolle, das wirklich der Musik wegen kommt, sagte er, könne man höchstens vor 500 Leuten spielen, sicher nicht vor 5000.
Gestern hätte er noch eine Null hinten dranhängen können, aber diese 50.000 fühlten sich an wie 100 mal die besagten 500.
Robert Rotifer
Irgendwann zwischen zwei Songs, noch vor Sonnenuntergang, schaute ein sichtlich überwältigter Damon Albarn auf das Menschenmeer hinaus und fragte: „Wie ist es für euch da hinten? Könnt ihr uns hören? Is this multi multi multi whatever (deutet auf die über den Park verstreuten Lautsprechertürme) adequate?“ Stille. (Deutet auf sich und die Band) “Is all this adequate?“ Jubel.
Robert Rotifer
Einen typischeren Blur-Moment könnte man kaum inszenieren. Was rufen Bands ihren Massen sonst schon zu, wenn diese einmal zu solch einer Größenordnung angeschwollen sind und die Provokation einer kollektiven Antwort einer simplifizierten Idiotenansprache bedarf. Are you alright!!??
Bei Blur, dieser schrulligsten (und insgesamt intellektuell aufgewecktesten) aller großen britischen Rockbands, übersetzt sich das als:
“Is this adequate?“
Zu Damons Information: Der Sound konnte gar nicht adäquat sein, weil rund um uns derart lautstark mitgesungen wurde, dass selbst die stärkste Anlage nicht dagegen angekommen wäre. Als etwa Graham „Coffee & TV“ anstimmte und seine dünnere Stimme unterzugehen drohte, fing die Menge den Song gleich vorsorglich auf: “Do you feel like a chainstore / Practically floored?“
Robert Rotifer
Aber der Reihe nach: Auf „She’s So High“ folgte ein voraussehbar hüpfkräftiges „Girls & Boys“. Vor "Tracey Jacks" schwang Graham seinen rechten Arm ein paar Mal selbstironisch nach Windmühlenart, ehe er den Townshendesken Vorhalteakkord im Intro anschlug. Die Stelle, wo die Hauptfigur des Songs sein Haus mit einem Bulldozer demoliert, einte hörbar die Herzen des vom britischen Eigenheimfetischismus traumatisierten Publikums.
Robert Rotifer
Dann kam „There’s No Other Way“, ein Song, der der orthodoxen Geschichtsschreibung zufolge bloß als formelhaftes Remake des zur Zeit seiner Veröffentlichung schon überkommenen Madchester-Sounds gilt, hier aber nicht mehr oder weniger als drei Minuten perfekter, tanzbarer Gitarrenpop, der die einschlägigen Bemühungen der im Vorprogramm angetretenen, an sich eh formidablen Foals im direkten Vergleich hoffnungslos engärschig erscheinen lässt.
Purzelbaum mit Vierzig
Zugegeben, im Widerspruch dazu, was ich vorhin geschrieben hab, sinkt die allgemeine Mitsingquote bei „Jubilee“ aus „Parklife“ doch ein wenig ab, der „He dresses incorrectly“-Refrain ist auch nicht gerade zum Skandieren geschaffen. In der Lärmexplosion nach der Zeile „So he plays on his computer gaaame“ vollführt Graham dann zum ersten Mal wieder seinen klassischen Rücklingssprung/fall mit anschließendem Rückwärtspurzelbaum. Mit 40 geht das noch. Ein Blick auf den 5 Jahre älteren Dave Rowntree am Schlagzeug stellt aber klar, dass diese Reunion gerade noch zum richtigen Zeitpunkt stattgefunden hat.
Und wo wir schon beim Thema sind: Alex James, diesmal im anliegenden schwarzen T-Shirt hat sein Käsefabrikantenbäuchlein ebenso abtrainiert wie Damon, dessen Studiowampe auf den Youtube-Proberaummitschnitten noch recht augenfällig war. Es scheint, als hätten Blur in den letzten zwei Wochen auf dieser und jener Bühne einiges an Kalorien verbrannt.
„Badhead“ macht vor allem Alex sichtlich Spaß. Er grinst wie das sprichwörtliche Hutschpferd, und die ersten Akkorde von „Beetlebum“ steigern die Euphorie einer Gruppe junger Frauen hinter mir in ein unkontrolliertes, spitzes Kreischen. Wenn Wildfremde gemeinsam sexuell suggestive Zeilen wie “She’ll suck your thumb / She’ll make you come“ singen, ist das jedenfalls ein ganz ein eigenes Gefühl.
Nur nicht Bono werden
Vor „Out of Time“ (glaub ich zumindest, ich hab mir zu diesem Zeitpunkt schon längst keine Notizen mehr gemacht) merkt Damon an, der Anblick all der Leute erinnere ihn an die zwei Millionen, die vor sechs Jahren im selben Park vergeblich gegen die Irak-Invasion demonstrierten: “I’d just like to remind myself of that, if you don’t mind“. Da windet sich einer förmlich in seinem Bemühen, nicht Bono zu werden.
Grahams Gitarrenpart zu "Out of Time", bei dessen Aufnahme er selbst nicht mehr dabei war, gestaltet sich im Gegensatz zu den Behauptungen diverser Live-Reviews, die von Feedback-Wolken und spinnenartigen Melodielinien sprachen, eher zurückhaltend, aber effektiv. Damon darf sogar sein Akustikgitarrensolo selber spielen.
Aber mir fällt gerade auf, dass ich wohl noch morgen hier sitzen werde, wenn ich nun nach den passenden Metapherngemischen und Superlativen zu jedem einzelnen der 25 Songs des Abends suche, also machen wir es ab jetzt kürzer:
Ad „Coffee & TV“ siehe oben, „Tender“ hat sich in den Jahren der Abwesenheit der Band selbsttätig zum Herzstück des Blur-Katalogs entwickelt und legt hier auch noch die Rutsche für die Rehabilitierung eines vom giftigen Kontext der damaligen Britpop-Schlacht um die Charts befreiten „Country House“ (übrigens mit einem damals so nie gehörten, fabelhaften Gitarrensolo), bei „Oily Water“ experimentiert Damon damit, Grahams Feedback über sein Megaphon zu übertragen und erntet so einen durchgringenden Sirenensound, der gleich direkt in „Chemical World“ überleitet. “They’re putting the holes in“, singt Damon. “Yes, yes“, bestätigt der dreiköpfige Chor, der neben drei Bläsern und einem Keyboarder die Band verstärkt.
Dann wird’s etwas volkstümlicher mit „Sunday Sunday“, ehe Damon kurz mit einem etwas verwirrten “Stop, stop, stop!“ den Lauf der Show unterbricht, um zu erklären, dass das Spazieren im Hyde Park ihn damals zu diesem Song inspiriert hat: Genau, „Parklife“, inklusive Phil Daniels.
"She said there's ants in the carpet..."
Beim Intro zu „End of a Century“ hat Damon sich in seine Rolle als Dompteur der Massen bereits hinreichend eingelebt, um die paar Zehntausend ein bisschen neckisch warten zu lassen, bis sie endlich die erste Zeile über die Ameisen im Spannteppich mitsingen dürfen.
Robert Rotifer
„To The End“ dagegen wandelt sich in dieser Umgebung von einem resignativen zu einem lebensbejahenden Statement: “It looks like we might have made it“ klingt hier lauter als der Nachsatz “to the end“.
„This Is A Low“ beendet den Hauptteil des Sets mit einem Refrain, der noch breiter wirkt als die jetzt nach Sonnenuntergang noch ein bisschen gigantischer erscheinende Bühne und einem Coxonschen Gitarrensolo, bei dem eine der Kameras den gerührten, verblüfften Blick eines daneben am Schlagzeug Podest sitzenden Damon einfängt, während Graham auf seiner Halbakustischen zu den eigenen Rückkopplungen harmonisiert.
Blur spielten dann noch zwei Zugaben: Erst „Popscene“, den heroischen Flop aus dem 92-er Jahr, ein beherzt punkiges „Advert“ und „Song 2“, während dessen ausgedehnten Schlagzeugintros in Anspielung auf Dave Rowntrees Kandidatur für die Labour Party bei den letzten (und kommenden) Unterhauswahlen im Bühnenhintergrund der Schriftzug „Vote Dave“ über die Leuchtdioden lief.
Dann die lyrischere zweite Zugabe mit „Death Of A Party“, „For Tomorrow“ und „The Universal“, dem Ende eines Konzerts, das in Erinnerung gerufen hat, welch schiere Menge an großen Popsongs diese Band in ihre sieben Studioalben gestopft hat.
“It really really really could happen“? It just did.
Und heute abend dann noch einmal.
Robert Rotifer
PPS: Zehn nachgereichte Thesen und bessere Bilder siehe hier.