Erstellt am: 30. 6. 2009 - 20:01 Uhr
Die Tote und die Mauer des Schweigens
Im Jänner letzten Jahres wurde eine 29jährige Frau tot und unbekleidet ans Ufer der Ager in Vöcklabruck gespült. Denisa Šoltísová war eine 24-Stunden-Pflegerin, die einen pensionierten Primararzt duch die letzten Monate seines Lebens begleitete.
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Martin Leidenfrost lebt in Devínska Nová Ves in der Nähe von Bratislava, direkt an der March, die Österreich und die Slowakei, altes und neues Europa trennt. Er ist Kolumnist und schreibt für die Tageszeitung Die Presse aus Brüssel und aus Devinska Nova Ves.
Ein halbes Jahr später stößt der österreichische Autor Martin Leidenfrost auf den Fall. Er wundert sich, warum in der Slowakei in allen Medien darüber berichtet wird, in Österreich in praktisch gar keinen: "Ich bin auf den Fall alleine nur durch die Tatsache gestoßen, dass ich in der Slowakei lebe, weil in Österreich gab es keinen Fall Denisa Šoltísová.", meint Leidenfrost im Interview. "Ich hab das im letzten Sommer in einer slowakischen Zeitung gelesen, und ich hab's nicht fassen können, dass das geht, dass in der Slowakei vom ersten Tag an ein halbes Jahr lang 'Mord' geschrieen wird, und in Österreich weiß niemand davon. Da gibt's nur Schweigen."
Martin Leidenfrost ist kein Krimiautor, trotzdem hat er begonnen zu recherchieren, und er hat ein Buch geschrieben über den nach wie vor ungelösten Fall.
"Im Juli trat ich eine andere Reise an. Es war die Route der (...) Hochschulabsolventin Denisa Šoltísová, zuletzt wohnhaft in einer Mittelslowakischen Bezirksstadt, zuletzt gesehen in der Winternacht des 19. Januar 2008, als sie durch eine oberösterreichische Bezirksstadt irrte, in Unterwäsche und ohne Schuhe.
Die Welten der Pflegenden und der Gepflegten lagen 700 Kilometer auseinander. (...) 700 Kilometer, ich befand mich zwischendrin. Mein Wohnort Devínska Nová Ves lag am Grenzfluss March, an der slowakisch-österreichschen Grenze. Ich hatte 350 Kilometer nach Gemer, 350 Kilometer nach Oberösterreich. Ich sprach beide Sprachen. Ich sah mich aufgerufen, in meinem Land über den Fall zu schreiben, in der Zeitung. Ich hielt mich nicht für den Richtigen, es machte mir keine Freude. Aber wer, wenn nicht ich, sollte es sonst tun."
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Der allzu schnell geklärte Selbstmordfall
Bereits fünf Stunden nach dem Auffinden der Leiche von Denisa Šoltísová war für den ermittelnden Beamten in Oberösterreich klar, dass die slowakische Pflegerin Selbstmord begangen hat. Der Fall wird zu den Akten gelegt, die Leiche zur Beerdigung frei gegeben. Erst die Obduktion in der Slowakei fördert Ungereimtheiten zu Tage: Druckstellen an den Oberschenkeln, die auf eine versuchte Vergewaltigung hinweisen. Und Medikamente in Denisas Blut - Medikamente gegen Krankheiten, an denen sie gar nicht gelitten hat.
"Die Roma wussten, wo die unglückliche Familie Šoltís wohnte, "die haben ein großes Haus". Wir hielten direkt davor. Ich kam unangekündigt, Herr Šoltís kam an den Gartenzaun. Ich stellte mich auf Slowakisch vor: "Ich bin ein österreichischer Journalist. Sie wissen bestimmt, warum ich komme." Als hätte er mich seit Monaten erwartet, führte er mich ins Haus."
Der Autor fährt von seinem Wohnort bei Bratislava in Richtung Osten, nach Gemer, in die Heimat der Toten. Und er fährt nach Westen, nach Vöcklabruck, zum Fundort ihrer Leiche. Er lernt Familie und Freunde der Pflegerin kennen, und die Familie in der sie gearbeitet hat.
Er findet Zeugen, die die Polizei nie befragt hat, er recherchiert und er scheitert bei der Suche nach dem Täter. Was Leidenfrost findet sind Verdächtige - und eine Mauer des Schweigens…
"In Oberösterreich wurde ich bis vor wenigen Wochen vollkommen blockiert", sagt Martin Leidenfrost. "Die oberösterreichische Öffentlichkeit, auch was die lokalen Medien angeht, da wurde einfach nichts drüber gemacht. Und das war für mich die verblüffendste oder auch erschreckendste Erfahrung, wie man so ein ganzes Bundesland einbetonieren kann, wie man da eine Informationsmauer drum herum errichten kann. Der normale Oberösterreicher hat bis vor kurzem noch nie davon gehört, dass da ein schreckliches Verbrechen passiert ist."
Getrennte Öffentlichkeiten
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Im Buch "Die Tote im Fluss" versucht Martin Leidenfrost, den Tod der Pflegerin Denisa Šoltísová zu auzuklären.
"Die Tote im Fluss" ist die Geschichte eines Kriminalfalls und vielleicht auch die seiner versuchten Vertuschung; es ist auch eine Geschichte des Scheiterns und der Entfremdung: der Autor scheitert an der Lösung des Falles, und er entfremdet sich mehr und mehr von seiner Heimat, so wie sich die Gesellschaften zweier Nachbarländer immer noch fremd sind; zwei Nachbarländer, deren Grenze inzwischen aus der Landschaft verschwunden ist - die in den Köpfen aber größer scheint denn je:
"Das sind Nachbarländer, die sehr viel miteinander zu tun haben, zum Beispiel in der Pflege", konstatiert Leidenfrost. "Obwohl es diesen tiefen menschlichen Austausch gibt, sind die beiden Öffentlichkeiten vollkommen voneinander getrennt, als wäre da ein hoher Zaun. Und das wollte ich mit meinem Buch einmal überbrücken, indem ich mich auf die Lebenswelten beider Seiten einlasse, auf die Seiten der Pflegenden und der Gepflegten."
Inzwischen, anderthalb Jahre nach Denisas Tod, ist der slowakische Obduktionsbericht endlich vollständig ins Deutsche übersetzt. Ein österreichischer Gerichtsmediziner ist gerade mit einem Gutachten beschäftigt, das den Bericht bewerten soll. Das kann noch dauern. Die Polizei hat, nach eigener Aussage, alle Spuren, die das Buch aufwirft, verfolgt, ist aber zu keinem Ergebnis gekommen. Der Fall Denisa Šoltísová ist noch nicht abgeschlossen.