Erstellt am: 22. 6. 2009 - 12:58 Uhr
Low life
Bisher waren alle konkreten Manifestationen der hierzulande schwer ins Rollen gekommenen Blur-Reunion an mir vorbeigegangen (der kleine Gig in Colchester, der ebenso kleine im Rough Trade East, der ein kleines bisschen größere im Goldsmith's College heute abend).
Ich hatte mir gedacht, ich könnte mir meine Emotionen für den 2. Juli im Hyde Park aufheben, oder für Glastonbury im Fernsehen kommendes Wochenende, am besten unter der Schottendecke bei Pistazien und Rotwein.
Und dann kam "Midlife - A Beginner's Guide To Blur" durch den Briefschlitz geflattert. Eine 2-CD-Best of-Compilation in der Sorte Doppel-Jewel-Case, die schon beim Anschauen zerfällt, also genau die Art von Produkt, die der Musikindustrie vor ein paar Jahren noch als der Rettungsanker erschien und die jetzt, wo gerade die Funktion des unverbindlichen Kennenlernens eines Katalogs so entschieden ins Netz hinübergerutscht ist, umso älter ausschaut.
Robert Rotifer
Andererseits hab ich zwei altersbedingt absolute Blur-Beginners bei mir zu Hause, also schien es nur fair und gerecht, sie vorgestern beim Frühstück diesem akustischen Anfängerleitfaden auszusetzen. Nicht vorgesehen war aber die Wirkung, die diese Übung auf mich selber hatte.
Weiß nicht, ob es irgendwelche Wege gibt, die Glastonbury-Übertragung am Wochenende in Österreich zu empfangen (bitte posten, wenn ihr es besser wisst), aber die über den Blur-Widget veröffentlichten Live- und Probenausschnitte vermitteln zumindest einen LoFi-Eindruck von der Wiedersehensfreude der Band.
Da ist nämlich zugegebenermaßen die eine oder andere Träne geflossen, aber keineswegs aus Trauer um die sorglosen Stunden einer verlorenen Jugend. Ganz im Gegenteil. Was da zurückkam, war ein Echo all der Depressionen, mit denen meine Generation sich damals ihre Mittzwanziger verschissen hat.
A ballad for the good times
Siehe etwa "Blue Jeans": "I don't really want to change a thing / I want to stay this way forever." Damals versuchte ich in meinem analytischen Selbstbetrug aus dieser Zeile die Apathie der Generation X herauszulesen, heute höre ich darin ganz klar eine tieftraurige vorsorgliche Nostalgie für das flüchtige Jetzt.
"Death of a Party", der damals schon alte Song, den Blur 1996 für ihre Neuerfindung/Rückbesinnung im isländischen Exil aus der Schublade holten, ist dagegen schon von vornherein trostlos: "Why did we bother? / Should have stayed away."
Dasselbe Thema taucht im gern übersehenen "Parklife"-Albumtrack "Badhead" auf ("I might as well just grin and bear it / Cause it's not worth the trouble of an argument / And in any case I'd rather wear it / It's like a bad head in the morning"), der in der auf jede Chonologie verzichtenden Tracklist von "Midlife" bezeichnenderweise auf "Trimm Trabb" und dessen geistesverwandten Befund folgt: "Us losers on the piss again."
Kaum die Sorte launige Zeile, die Sehnsucht nach den goldenen Zeiten des Britpop weckt.
"I sleep alone" (ebenda).
Nasty blisters in the nineties
Sogar die Partysongs wirken im Nachhinein betrachtet reichlich düster. Wie vielen unter uns war damals schon wirklich bewusst, wie konkret die Feriensexhymne "Girls & Boys", deren herrlich idiotische Disco/Gitarren-Montage Franz Ferdinand um ein knappes Jahrzehnt zuvorkam, von Aids und Geschlechtskrankheiten handelt?
"Love in the nineties is paranoid / On sunny beaches / Take your chances"...
"Nothing is wasted / We only reproduce / You get nasty blisters / Du bist sehr schön / But we haven't been introduced"
Am Anfang des nächsten Jahrzehnts treffen sich dann die Kinder des 20. Jahrhunderts aus "For Tomorrow" wieder und vergleichen ihre Narben:
"I've got nothing to rely on / I've broken every bone / Everybody's stopped believing / But you know you're not alone / You can be with me"
Diese Reime aus "Battery In Your Leg" - dem einzigen Song der "Think Tank"-Sessions, bei dem ein entfremdeter Graham Coxon noch anwesend war, versunken in seine Effektgeräte, mit deren Hilfe er infernalische Soundkleckse quer über Damons "ballad for the good times" patzte - wirken erst heute tröstlich, wo zwischen ihm und Damon alles wieder gut geworden ist.
Reminiszenzen an das kollektive Tief
Ersten Berichten zufolge gibt es jetzt sogar einen wunderbaren Gitarrenpart, dort wo im Mix von "Out of Time" immer so ein schmerzlich riesiges Graham-förmiges Loch klaffte.
Und das ist das Eigenartige an der ganzen Blur-Reunion: Anders als bei all den anderen unzähligen Wiedervereinigungen der letzten Jahre, fühlt sich diese weniger als Tribut an die alten Tage an, denn als eine erleichterte Feier der Tatsache, dass wir alle (i.e. die Band und ihr damaliges Publikum) irgendwie auf der anderen Seite wieder rausgekommen sind.
Wir werden zu den Klängen von "This is a Low" die Arme über den Köpfen schwingen, uns ansehen und sagen: "Hörst du, sie spielen unser Lied?" Das ist ein Tief, aber es wird dir nicht wehtun. Wenn du allein bist, wird es an deiner Seite sein. Finding ways to stay so low.
EMI
Das Cover von "Midlife" vermischt übrigens in Nachempfindung der ironisierten Stylorouge-Ästhetik der Britpop-Periode unter anderem Bilder von Dolly, dem geklonten Schaf, Blair und Bush, der Anti-Irak-Kriegs-Demo, Pommes Frites in einer Hammer- und Sichel-Tüte und einer Eisbärenfamilie auf einer driftenden Eisscholle. Im Booklet dazu werden Ereignisse des Weltgeschehens mit der gleichzeitig ablaufenden Blur-Geschichte lose in Zusammenhang gebracht:
"8th April 1994. Kurt Cobain is found dead at his home in Seattle.
27th April 1994. The first fully multiracial elections in South Africa mark the end of Apartheid.
7th May 1994. Parklife is released, reaching No. 1."
Dieser Versuch der Kontextualisierung ist zwar nett gemeint, sabotiert aber die über ihre Zeit hinaus überdauernde Qualität von Songs wie "The Universal".
"This is the next century
Where the Universal's free
You can find it anywhere
Yes the future's been sold"
Als Damon diesen dystopischen Text 1995 schrieb, stand The Universal für eine universelle Droge zur Betäubung der Welt. Heute hört es sich an wie eine Beschreibung der Musikökonomie des Internets und seiner sozialen Netzwerke:
"No one here is alone
Satellites in every home"
Okay, das Smartphone hatte er nicht vorausgesehen, aber ansonsten finden sich all diese Songs im 21. Jahrhundert erstaunlich gut zurecht.
Man könnte "Midlife" diesbezüglich der milden Geschichtsfälschung bezichtigen (kein "Country House", kein "Bang", kein "On Your Own" stören das Bild). Oder man könnte sich einfach darüber freuen, dass die Band sich in ihrer Rückspiegelsicht selbst genauso sieht wie wir, die wir "Chemical World", "Blue Jeans", "He Thought of Cars" oder "Sing" immer schon weit über die Hits gestellt hatten.
Nur "Tender" dürfen wir nicht auflegen, da muss die Tochter jedesmal wie ein Schlosshund heulen.