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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

17. 6. 2009 - 19:38

Konzepte rocken doch

Tod dem Album zum Selbstzweck? Von mir aus. Umso länger lebt das Konzeptalbum. Lob einer geschmähten Disziplin.

Es hätte ja so viel zu sagen gegeben.

Möglicherweise gibt es Leute, die das hier lesen und auch hin und wieder jeden zweiten Montag meine Heartbeats hören. Möglicherweise haben diese Leute bemerkt, dass ich darin bei meiner Standortbeschreibung schon länger nicht mehr von einer „Londoner Außenstelle“, sondern von der „englischen Einschicht“ spreche.

Weil es heutzutage ziemlich einfach möglich ist, meine Sendungen von zu Hause zu machen, anstatt um drei in der Früh mit Bandresten um den Hals im Broadcasting House der BBC zitternd vorm Snackautomaten zu stehen.

Stattdessen greife ich zwischendurch in die Keksdose oder werfe den Wasserkessel an.
Und wenn ich gleichzeitig etwa mein Interview mit David Longstreth von den Dirty Projectors in mein „System“ einspiele und ihn dabei höre, wie er mit bubenhaftem Kichern gesteht, wie prägend – neben den frühen Beatles, Black Flag und Björk - in seinen Teenagerjahren Pavement für ihn waren, dann kann man mit einer reflexartigen Wendung schnell hinter sich greifen und „Brighten The Corners“ aus dem Regal holen (Kichern übrigens, weil Bruch der ersten Regel des gehobenen arty-Indie Künstlers: Nenne nie andere arty-Indie Künstler als Inspiration, sondern Jazz oder Hip Hop oder – die demonstrativ anti-elitäre Variante – als produktionstechnisch progressiv empfundenen Mainstream-Pop).

Wenn die Hardware weich wird

Ich bin also ein Modernisierungsgewinner. Früher musste ich Sendungen per Post schicken, heute kippe ich sie per Handbewegung in eine Mailbox, ich glaube ich habe hier schon einmal darüber geschrieben und dazu Screenshots der sich langsam vervollständigenden blauen Balken veröffentlicht. Immer wieder rasend interessant.

Und dann gibt es Tage, da vervollständigt sich nichts, da summt es bloß laut und - jetzt dürfen die PC-UserInnen gern hämisch lachen, wenn sie wollen - überall, wo du hinklickst, rotiert bloß der bunte Strandball des Todes.

Dementsprechend doppelt letal (wenn das praktisch möglich wäre) der Effekt, wenn sich am selben Tag die Internetverbindung regelmäßig nach 16MB Upload aus mysteriösen Gründen aufhängt und einem die Reserveverbindung übers Handynetz überschlagsmäßig vorrechnet, dass man für dieselbe Datenmenge 8 Stunden und 49 Minuten Übertragungszeit brauchen wird.

Blaue Balken im Kampf gegen die Uhr

Vorgestern war es zum Beispiel genau wie beschrieben.

All das, was an einem solchen Tag hier gesagt bzw. geschrieben werden wollte, musste sich dem Kampf gegen die Uhr unterordnen, wenn es darum ging, dem technologischen Terror zum Trotz irgendwie rechtzeitig meinen Dirty Projectors-Beitrag für die Homebase und meine Sendung zu FM4 rüber zu beamen.

Dabei hatte ich gerade Martin Blumenaus sonntägliches Journal gelesen. Nach einer Abhandlung über den anhaltenden Terror des unzeitgemäßen Albumformats gelangt er darin zu einem Plädoyer für die Aufwertung des einzelnen Tracks in der medialen Wahrnehmung.

Und darunter darf heutzutage offenbar auch wieder ein Song verstanden werden – anders als in den Neunzigern, wo traditionelle dramaturgische Strukturen von JournalistInnen in ihren Zwanzigern bis Vierzigern gern als redundant und rückständig verdammt wurden, während gleichzeitig längst mit der Dance-Revolution aufgewachsene Teenager wie die Junior Boys aus Trotz wider diese neue Konvention an ihrem elektronischen Songformat zu basteln begonnen hatten. So viel nur nebenbei zur begrenzten Lebensdauer so mancher Postulate zur Zugrichtung des Fortschritts.

Relativierend heißt es dann in Martins Text: “Wer sich dezidiert als Musik-Künstler mit dem Drang dazu Lieder-Zyklen aufzunehmen begreift, wird das weiterhin tun: Alben herausbringen. Wer sich als Erschaffer von Tracks, also als in Club-Szenen beheimateter Künstler sieht, oder als Kreateur von einzelnen Stücken, also als Pop-Artist sieht, wird es lassen.”

Die falsche Scheu vor dem K-Wort

Letzteres hätte ich mir ja anders zu formulieren erlaubt, schließlich kann ein in sich schlüssiges Album selbstverständlich genauso Pop sein wie eine Single, siehe endlos viele, alte und neuere Beispiele von “Rubber Soul” über “Don’t Stand Me Down” oder “Paul’s Boutique” bis zu “A Grand Don’t Come For Free” oder “808s & Heartbreak”. Es geht also nicht um Pop versus Kunst, sondern um lange und kurze Erzählformen bzw. Stilklammern.

Public Image Limited Album Metal Box

PiL

PiL's Post-Punk-Konzeptalbum Metal Box

Im Gegensatz zum unseres Altersunterschieds wegen tiefer als ich in der Ideologie der Punk-Ära sozialisierten Martin Blumenau, der in seinem Beitrag von “Hippie-Scheiße und deren blödiger Konzept-Alben-Pseudo-Kunst” spricht, fallen mir als Kind des Sixties-Revivals der Achtziger ja auf Anhieb wesentlich mehr gelungene als gestrandete historische Konzeptalben ein: “Ogden’s Nut Gone Flake”, “S.F. Sorrow”, “Odessey & Oracle”, “Bookends”, der originale “Tommy”, “Arthur (or the Decline and Fall of the British Empire”), “Ziggy Stardust” oder – hallo Punks! – “Metal Box” von Public Image Limited und eigentlich auch “Sandinista!” von The Clash.

Und jetzt zu der Sache, die sich mit der ganzen Debatte spießt: Aus falscher Post-Punk-Scham wird es zwar nicht gern an die große Glocke gehängt, aber in Wahrheit erlebt das Konzeptalbum in paradoxer Gegenläufigkeit zum generellen Niedergang des Albums nun schon seit geraumer Zeit eine erstaunliche zweite Blüteperiode, siehe aus einem Guss geformte Dinger wie Grizzly Bears “Veckatimest”, Joanna Newsoms “Ys” oder die LP von A Thousand Fuegos, die Bundesstaatenalben von Sufjan Stevens, das Flaming Lips-Narrativ “Yoshimi Battles The Pink Robots”, Damon Albarns Idee der Band als Konzept mit Gorillaz und The Good, The Bad & The Queen, of Montreals durchgehender Popsong-Stream of Consciousness, das Gesamtwerk der Fiery Furnaces, Neon Neon’s DeLorean-Story “Stainless Style”, Darren Haymans Folk Opera “Pram Town”, Graham Coxons klingende Soldaten/Zivilistenbiographie “The Spinning Top”, Robert Wyatts “comicopera” oder Madness’ jüngstes London-Epos “The Liberty of Norton Folgate”, um jetzt nur denkfaul ein paar Beispiele von weit innerhalb meines persönlichen Tellerrands zu nennen. Jedem/r, der/die z.B. ein bisschen in Richtung Hip Hop weiterdenkt, würde da gleich noch wesentlich mehr einfallen.

David Longstreth von den Dirty Projectors

flickr.com

David Longstreth macht den Jimi, wenngleich mit etwas kürzerem Gurt, zur Vermeidung des Eindrucks von Rockisten-Scheiß-Hippie-Ästhetik

Oder eben die Dirty Projectors: Ihr Kopf David Longstreth geht bei jedem seiner Alben grundsätzlich von einem übergeordneten Ideenbogen aus, sei es ein Tag im Leben von Don Henley, ein aus dem Gedächtnis radikal neuinterpretiertes altes Black Flag-Album, das er seit 15 Jahren nicht gehört hat, oder wie im jüngsten Fall “Bitte Orca” der Versuch, seine Songs bewusst aus Kombinationen bereits im Umlauf befindlicher Text- und Musikelemente zu konstruieren, nicht per Sample, sondern über den Umweg seines schreibenden und spielenden Körpers.

"I feel really lucky to be making music now"

Als ich Longstreth letztens in London traf, stellte ich ihm also eine meiner derzeitigen Standardfragen, deren routinierte Anleierung mir mittlerweile schon recht flott von der Zunge geht:

Früher einmal ging die Hörerfahrung des Pop-Publikums mit der Produktionsweise, dem Format und der von den Bands bevorzugten Ästhetik bzw. den zugehörigen Drogen einher – von der hysterischen Mini-Sinfonie der Phil Spector-Singles über die mit der Bewusstseinserweiterung einhergehende Spieldauererweiterung bzw. Umstellung von Mono auf Stereo in der Post-Pet Sounds/Pepper-Ära bis zu den nicht aufhören wollenden 12-Inches für die endlosen Nächte der mit Amphetaminen und Ecstasy betriebenen Dance-Ära. Die CD hat sich diesbezüglich uninspirierend neutral aber auch vielseitig gegeben.

Jetzt stehen dagegen wir zum ersten Mal vor der Situation, dass die Art des Konsums – per einzelnen digitalen Tracks - mit der Intention der MusikerInnen, die immer noch Alben, meist am liebsten auf Vinyl, machen wollen, nicht mehr zusammengeht. Sind die MusikerInnen also (wert)konservativ, haben sie Statusängste? Und kann so eine mit dem Markt vermählte Kunstform wie die Popmusik bewusst am Markt vorbeiproduzieren?

David Longstreth schüttelte kurz nachdenklich seinen jugendlichen Wuschelkopf. Und sagte folgendes:

“Certainly, there are artists who are awesome, who are working completely within that movement, you know, like a T-Pain or a Lil Jon production (siehe oben erwähnte erste Regel, Anm.) that sounds like it was almost made for a ringtone or something like that, and it can be really, really great. But I don’t know, maybe it’s hard to generalize about this era, particularly precisely because it is so plural. I also feel that we are in a time when abstraction seems like a really natural reaction. Not only for a musician but also for a person listening to music. Going around on tour and playing these songs and making these recordings and talking to people, I feel like the abstraction in this music feels viscerally understood and transparent in a way that kind of blows my mind. So I feel really lucky to be making music now.”

Was soll ich sagen, er hat völlig recht, wenn er die meiner Frage zugrunde liegende These, dass die MusikerInnen mit ihren Alben an den sich verändernden Bedürfnissen ihrer KonsumentInnen vorbeiproduzieren, hier auf freundliche Weise Lügen straft.

Denn einer wie David Longstreth erregt heute mit seinem herrlich verkopften, quirligen Prog-Pop eigentlich ein überproportional großes Publikum und sieht zurecht keinerlei Grund zur Beschwerde.

Für rigorose Konzeptalbumpflicht

Am Ende dieser langen Assoziationskette heißt das also: Ich und offenbar auch ein nicht unwesentlicher Teil der Welt da draußen sind eigentlich mit Martin Blumenau einverstanden, auch wenn wir dasselbe Argument vielleicht anders gewichten würden.

Wir wollen Alben auch nur dann als solche veröffentlicht, rezensiert und konsumiert sehen, wenn sie tatsächlich Alben und nicht arbiträre Sammlungen von Songs sind, die halt zur gleichen Zeit fertig geworden sind. Und ich zumindest würde mir insofern wünschen, dass es ungefähr ab morgen überhaupt nur mehr Konzeptalben oder Best of-Collections gäbe. Wer keine zündende Idee für eine lange Form hat, soll auch keine Alben rausgeben.

So wie – wenn ich es mit einem gerade weil plumpen verständlichen Vergleich sagen darf – niemand ein Buch mit neuen Short Stories veröffentlicht, sondern einen ganzen Roman, einzelne Short Stories und vielleicht irgendwann einmal, wenn’s denn verlangt ist, eine Short Stories-Sammlung.

So ein rigoroses Pro-Konzeptalbendogma würde den Rezensionswust augenblicklich eindämmen, weniger Rezensionen könnten sinnvoll lang sein, und die Kunst der Track bzw. Song-Kritik, wie sie etwa Dave Marsh einst in der Music Box perfektionierte, hätte wieder Platz, sich auszubreiten. Übrigens bitte – um jetzt Martin in seiner Leidenschaft hier doch noch ein bisschen zu sekkieren - durchaus in schrecklich obsoleter Printform, weil Leute wie ich nicht gern mit dem Laptop am Knie auf dem Klo sitzen.

Der technologische Zusammenbruch bei mir am Montagabend hatte übrigens auch seine gute Seite. Ich hab all meine Files auf mein Laptop gespielt, bin rüber zum Nachbarn und hab sie durch dessen dickes Kabel über den Kanal wachsen lassen.

Derentweilen sind wir, statt Webstories zu posten, einfach in seinem Garten gestanden, haben sehr lang und intensiv den Himmel angeschaut, den Zug der Wolken im nördlichen Himmel und den Flug der Vögel beobachtet. Er ist eben ein bisschen ein alter Scheiß-Hippie, mein Nachbar, und das passt mir ganz gut in den Kram, weil er mir von den Yardbirds und Fairport Convention erzählen kann. „Liege & Lief“, gutes Konzeptalbum.

PS: Hugh Hopper, seit deren wunderbarem, 1969 erschienenen Jazz-Psychedelik-Konzeptalbum „Volume Two“ Bassist, Gitarrist und Saxophonist bei The Soft Machine, der größten Band der für ihre Prog-Rock-Pioniertaten berühmten/berüchtigten Canterbury Scene, ist am 7. Juni im Alter von 64 Jahren an Leukämie verstorben. Mit dem Titel eines seiner Songs aus jenem Album gesagt: „Dedicated to you, but you weren’t listening“

Wilde Flowers

Wrong Movements

Hugh Hopper, ganz links, Mitte der Sechziger in der Soft Machine-Vorgängerband Wilde Flowers, Robert Wyatt sitzend in der Mitte