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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

15. 6. 2009 - 17:02

Journal '09: 15.6.

Anmerkungen zu "10 Strategien für den Journalismus 2.0".

Die deutsche Medienjournalistin Ulrike Langer hat anlässlich Anfang Juni abgehaltenen Global Media Forum der Deutschen Welle ein Paper mit dem Titel 10 Journalistic Strategies for Competing in the Web 2.0 präsentiert.

Die zehn Punkte sind klar gedacht, stringent ausgeführt und eine der aktuell weitsichtigsten Zusammenfassungen in diesem wichtigen Feld.

An dieser Stelle mein Dank an den Aufmerksam-Macher Philip Pfleger!

Ich möchte sie hier kurz vorstellen und mit ein paar (einerseits österreichischen, andererseits persönlichen) Anmerkungen versehen - ganz wie es in Punkt 1 auch gleich gefordert wird - und wie es auch im April anlässlich der 10 Thesen zum Modernisierungsversagen der Medieneliten des deutschen Medienforschers Robin Meyer-Lucht hier in einem Journal schon der Fall war.

1. Diskussion ermöglichen

Journalismus 1.0 druckt eine fertige Geschichte oder stellt sie ins Netz. Dann dürfen die Leser in einem abgetrennten Bereich – manchmal, aber nicht immer – kommentieren. Der Autor schaltet sich in der Regel nicht in die Diskussion ein, die Redaktion höchstens, um umpassende Kommentare zu löschen.
Journalismus 2.0 ist anders: Ein Beitrag ist nicht in dem Moment fertig, wo er veröffentlicht wird. Autoren sind gefordert, mitzudiskutieren. Nutzerkommentare müssen ein gleichwertiger Teil der Veröffentlichung werden, wobei aus einem Zeitpunkt ein Prozess wird. Außerdem müssen die Kommentare raus aus den Ghettos und prominent neben den dazu gehörigen Beiträgen platziert werden.

Das sehe ich, zu meiner Überraschung, nach einigem Nachdenken, letztlich genauso. Natürlich hat die Gleichwertigkeit der Information Sinn: bei Info-Geschichten wie meinem Legionärseintrag würd ich mir eine solche Struktur sogar wünschen. Dass sich beim Meinungs-Blog andere Maßnahmen empfehlen ist wohl evident.

Wichtig ist mir auch der Punkt, dass der Beitrag mit seiner Veröffentlichung nicht fertig ist. Ich hab eben das gestrige Journal um ein paar Sätze angereichert, die mir eben erst eingefallen sind. Die Unterschiedlichkeit der Festigkeit eines Print- und eines Web-Beitrags ist allerdings etwas, was dem Großteil der österreichischen Konsumenten noch Verständnis-Probleme bereitet.

2. Journalistische Plattformen müssen öffentlicher Gesprächsstoff sein

Webplattformen von Medienhäusern dürfen sich nicht hinter Bezahlschranken verstecken. Sie müssen sich öffnen, um gefunden zu werden. In der Link-Ökonomie, wie sie der New Yorker Medienprofessor und Autor Jeff Jarvis ("Was würde Google tun") beschreibt, sind Medien-Websites um so wertvoller, um so mehr sie mit dem Rest der Onlinewelt vernetzt sind. Isoliert hinter Pay-Walls, hinter denen sie nicht gefunden, nicht verlinkt und nicht weiterempfohlen werden können, verlieren die Inhalte an Wert. Sie sind der öffentlichen Diskussion entzogen. Die New York Times hat das erkannt und hat die Bezahlschranke vor ihrem Angebot "Times Select" 2007 wieder aufgehoben. Seitdem ist der Traffic auf der NYT-Website um 40 Prozent gestiegen und die erhöhten Werbeeinnahmen haben die Gebührenverluste mehr als wettgemacht.
Das Marktforschungsunternehmen Hitwise hat für Großbritannien analysiert, dass zehn Prozent aller Links von Twitter auf Zeitungswebseiten führen. Da Nutzerzahlen von Twitter in Europa noch gering sind, ist das erst 0,3 Prozent des Gesamttraffics. Links von Facebook auf Verlagsseiten machen im UK aber schon 3,3 Prozent des Traffics aus – doppelt soviel wie von Google.

Das war für Österreich nie eine seriöse Frage: Alle, die sich hinter Bezahl-Formen verstecken, büßen das. Dazu ist die österreichische Gratis-Mentalität viel zu entwickelt. Allerdings ist die hiesige Werbe-Industrie, vor allem die srukturkonservativen Media-Agenturen recht weit hintennach.

Zum Thema Verlinkung folgt später noch mehr. Dass Facebook und vor allem Twitter wahre Medien-Link-Schleudern sind, merkt der geneigte User recht schnell.

3. Journalismus muss dort sein, wo die Nutzer sind

Der Guardian, die New York Times, National Public Radio (USA) und die BBC ermöglichen ihren Nutzern, Inhalte mitzunehmen und auf ihren eigenen Webseiten (oder wo auch immer sie wollen) einzubetten, z.B. in Form von Widgets. Die NYT hat im Februar 2009 eine offene Schnittstelle alias API (Application Programming Interface) angekündigt, mit der alle seit 1981 verfügbaren Beiträge – über 2,8 Millionen – im Web transportabel sind. Und zwar in Gänze, nicht nur als kurze Zitatschnipsel. Die Schnittstelle enthält 28 verschiedene Suchfelder und aktualisiert stündlich frischen Content. Nutzer können so zum Beispiel ihre Facebook-Website oder ihren Blog zum NYT-Newsticker machen.

Da winkt die Zukunft - siehe auch Punkt 10. Die Implementierung von Widgets wird das Ding sein, mit dem sich die Medienhäuser in den nächsten Monaten herumschlagen werden.

4. Journalistische Plattformen sollten multimediale Erzählformen und die Kreativität der Nutzer fördern

Der Guardian hat die gesamten verfügbaren Daten zum Spesenskandal der britischen Unterhaus-Abgeordneten (Wer hat welche Steuernachlässe in Anspruch genommen? Wer hat sie zurückgezahlt? Wer nicht?) in Tabellenform aufbereitet. Das Erstaunliche daran ist nicht so sehr die ausgezeichnete interaktive Darstellungsform, sondern vielmehr die Offenheit und der kollaborative Charakter des Projekts, der sich in dieser Frage an die Nutzer ausdrückt: Can you do something with this data? Please post us your visualisations and mash-ups below or mail us.

Das ist mir, ehrlich gesagt, zu sehr ein Einzelbeispiel um was draus zu lernen. Und es verstärkt die prekäre Ausbeutung.
Ich kann auch ein paar Beispiele aufzählen, in denen FM4-Hörer Dinge gebaut haben, die wir uns auf regulärem Weg nicht hätten leisten können - solche Fan-Geschenke zum Prinzip zu erheben, ist allerdings problematisch.

5. Tue, was Du am besten kannst, und verlinke zum Rest

Jahrelang ist Online-Journalisten beigebracht worden, bloß nicht nach draußen zur Konkurrenz zu verlinken. Sie sollten umdenken. Laut Jeff Jarvis gebiert die “Kultur des Verlinkens" nicht weniger als eine “neue Nachrichtenarchitektur".
Journalistische Webseiten sollten sich nach Jarvis’s Leitsatz “Do what you do best and link to the rest" auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren und diese Kompetenzen auch bei den Wettbewerbern anerkennen. Nutzern, denen Mehrwert in Form von guten Links geboten wird, kehren um so lieber zurück.
Blogs mit ihrer liberalen Verlinkungskultur und dem bereitwilligen Anerkennen anderer guter Blogs in der Blogroll können hier als Vorbilder dienen. Doch auch manche Medien erkennen inzwischen, dass "Link-Karma" in beide Richtungen wirkt.

Da hat (und das plaudere ich aus dem FM4-Nähkästchen) wahrhaftig ein Umdenken eingesetzt.
Früher war die Outdoor-Verlinkung wegen ihres wegführenden Charakters verpönt. Mittlerweile achtet man zwar noch auf die Kompatibilität der Seiten, auf die man User seines Contests so schickt - hat aber keine große Hemmschwelle; auch wegen des angesprochenen Link-Karmas.
Wichtig ist dass die"best"-Bereiche eine Art Exklusiv-Anspruch vermitteln. Beispiel: die denkerische Exklusivität zb meiner Fußball-Journale kann niemand beeinspruchen - also kann ich mit zahlreicher Verlinkung sonstwohin in die Fußballwelt führen.

6. Multimedial denken

Im Jahr 2009 muss eine Journalistenaus- und weiterbildung zwingend medienübergreifend geschehen. Ausbildungsstätten wie die Axel Springer Akademie gehen hier beispielhaft voran. Doch davon profitieren nur die wenigsten Journalisten. Vor allem Freie müssen sich mittlerweile auch mit 40 oder 50 Jahren in Eigenregie für sie eventuell ganz neue Kenntnisse und Fähigkeiten aneignen, um nicht in einigen Jahren von Aufträgen ausgeschlossen zu bleiben. Printjournalisten müssen lernen, Verlinkungen mit zu denken, Radiojournalisten müssen auch Bilder liefern können und Fotografen müssen auch mit der Videokamera umgehen können.
Wirklich attraktiver und preiswürdiger Webcontent zeichnet sich oft dadurch aus, dass hier ein Verlag die Printgrenzen überwunden und multimediale Darstellung nicht bloß als zusätzliches schmückendes Beiwerk benutzt, sondern in Qualität investiert.

Das sollte eigentlich Punkt 1 sein.
Wer da nicht mitmachen will - und die alte Schule in diesem Land weigert sich ja großteils mit erstaunlich dümmlich argumentierter Beharrlichkeit - dem ist nichts von allem hier Besprochenen begreiflich zu machen.
Nicht sehr hilfreich ist in diesem Zusammenhang die durchaus auch nur strukturkonservative Haltung der zerspragelten Journalisten-Gewerkschaft, die leider auch zu schwach für brauchbare Definitions-Arbeit ist - was den Arbeitgebern wieder (wie immer in Umbruchzeiten) die Chance auf prekäre Beschäftigung gibt.
Wie wenig die österreichische Ausbildungs-Praxis, von der immer noch auf eine schwächelnde Print-Welt ausgerichteten Wiener FH bis zu allen anderen Lehrredaktionen des Landes, den Anforderungen der Zukunft entspricht, lässt sich jeden Tag aufs Neue wahrnehmen.

7. Die Weisheit der Masse nutzen

Medien und Bildungseinrichtungen sollten nicht nur professionelle Journalisten im Umgang mit Social Media Tools von Blogs bis Twitter schulen, sondern auch Social Media Nutzer, welche diese Techniken schon wie im Schlaf beherrschen, und Interesse an eine Kooperation haben, im Umgang mit journalistischen Gepflogenheiten von A wie Archiv bis Z wie Zitieren. Profi- und Amateur- oder Bürgerjournalisten müssen sich beim "Crowdsourcing" (die Weisheit der Masse anzapfen) nicht als Konkurrenten begreifen, sondern können konstruktiv zusammenarbeiten. Journalisten haben in dieser Konstellation vor allem die Aufgabe, Dialoge zu moderieren und Recherchen zu begleiten.
Kollaborativer Journalismus per Crowdsourcing hat ein riesiges, bisher noch weitgehend ungenutztes Potenzial. Laut eMarketer haben allein in den USA mehr als 82 Millionen Menschen eigene Inhalte ins Netz gestellt, davon 21 Millionen auf Blogs – und sind somit im weitesten Sinne als Medienschaffende zu bezeichnen. Bis 2013 soll ihre Zahl auf 115 Millionen anwachsen.

Da hinkt die Welt hinter den USA, Europa hinter England oder Frankreich und Österreich hinter Deutschland her. Das hat mit der wenig demokratischen Grundstruktrur, der herrschaftsbejahenden und sich stets als halbstaatliches Regulativ betrachtendem hiesigen Presse-Tradition zu tun, die letztlich immer Journalismus gegen das Volk bestritten hat, anstatt es als mündig anzusprechen, anstatt es zu Bürgern auszubilden. Im Land in dem Medien sich als Vormund einer tölpelhaften Masse begreifen wird diese Entwicklung spät, vielleicht sogar gar nicht, funktionieren.

8. Hyperlokal denken

Crowdsourcing bietet die Chance, Journalismus auf kleinste lokale Einheiten herunterzubrechen und somit über das zu berichten, was die Nutzer in ihren Stadtvierteln oder Dörfern interessiert.

Das wiederum könnte eher klappen - die kleine lokale Unit ist durchaus unabhängiger bespielbar. Allerdings refereziert Langer da etwa auf Manhattan oder einzelne Stadtteile - die jedoch soviel Medienkompetenz aufweisen wie ganz Österreich zusammen nicht.

9. Spendenfinanzierten Journalismus ermöglichen

Wer bezahlt, sucht auch die Themen aus. Bei Spot.Us , einem Projekt des erst 27 Jahre alten Journalisten David Cohn in San Francisco, bestimmen die Nutzer mit ihren Spenden, für welche Themen und Recherchen sie bereit sind zu zahlen. Erst wenn eine Recherche finanziert ist, ziehen die Reporter los. Wenn klassische Medien die Geschichten anschließend kaufen, bekommen die Finanziers ihr Geld zurück. Cohns Projekt wird derzeit durch ein Stipendium der Knight Foundation finanziert. 23 Geschichten wurden in den ersten sechs Monaten finanziert. Cohn arbeitet eng mit dem New Yorker Medienprofessor Jay Rosen und dessen NewAssignment.Net für kollaborativen Journalismus von Profis und Bürgern zusammen.

Auf dem Papier klingt das super - und vor allem in einer Gesellschaft, in der das Prinzip der Charity den Sozialstaat ersetzt gibt es eine große Anzahl von Bürgern, die derlei als eine ihrer Grundaufgaben begreifen.
Im Umfeld der entmündigten Tölpel, die jede Unterstützung von "G'scheitem" als Angriff auf ihre Nivellierungs-Versuche nach unten betrachten, ist sowas allerdings zum Scheitern verurteilt.
Da unterscheidet sich Österreich noch einmal ganz drastisch von Deutschland, wo die selbstlos-mäzenische Denke noch existiert

10. Neue Technologien umarmen

Jede Tage werden neue Tools und Techniken erfunden, die den Journalismus 2.0 erleichtern oder überhaupt erst ermöglichen. Gerade deutsche Journalisten nutzen sie aber oft nur zögerlich und mit großer Zeitverzögerung.
Zum Beispiel: Online-Recherchen gemeinsam betreiben mit Wikis und netzbasierten Lesezeichen.
Oder bei Mobile Reporting: Mit dem Handy Videos vor für Live-Berichte direkt auf die Website streamen. Video-Interviews mit einfachsten Mitteln in guter Webqualität (Flip-Kamera).
Google Wave kann neue Maßstäbe beim kollaborativen Arbeiten an journalistischen Projekten setzen. Zum Beispiel können mehrere Autoren gleichzeitig an Texten und Notizen schreiben.

Ja, eh. Und täglich gibt's mehr davon.
Und täglich schrumpfen die Budgets und die personal-Ressourcen, egal ob bei Print oder im ORF.
Und täglich steigen die Anforderungen an die Journalisten.
Einfach gestrickte Gemüter ohne innere Energie, die in den 70er und 80ern noch ein Plätzchen fanden, weil sie nach zwei Stunden dann doch noch zwei hübsche (wenn auch inhaltsarme) Sätze drechseln konnten, hätten im Multitasking-System keine Chance.
Ich wünschte die Zukunft wäre schon früher dagewesen.