Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Sobald Babies geboren, Erinnerungen gemacht sind"

Clara Trischler Jerusalem

Erzählt an dieser Stelle über israelische Alltagsbeobachtungen.

19. 6. 2009 - 14:47

Sobald Babies geboren, Erinnerungen gemacht sind

Der autostoppende Siedler, die jüdische Österreicherin, die in Tel Aviv altert und die Lagerfeuerromantik, die sie verbindet.

Ich lege meinen ausgestreckten Arm auf die Kante des offenen Autofensters und lehne meinen Kopf in den Wind. Wir sind unterwegs, um den noch unbekannten Fehler zu begehen, an einem heißen Tag an natürlich heiße Quellen zu fahren, an einen entlegenen Teil des versalzenen Strandes des Toten Meeres, ohne Süßwasserduschinfrastruktur, was zur Ausbreitung suboptimalen Brandgefühls auf Schleimhäuten und kribbelndem Jucken auf sonstigen Körperstellen führt.
An einer Kurve in Richtung des tiefsten Orts der Welt packen wir einen Autostopper ein, wechseln Worte und Blicke. Ich zucke leicht, als er erzählt, dass er an der Talmudschule in Hebron studiert und lebt. Der dunkelhaarige, etwa 20-jährige Adam mit dem freundlichen Gesicht ist also Siedler auf palästinensischem Gebiet.

Santa Claus Siedler

FM4

Siedler

Adam findet es "wichtig, dass wir [als Juden] da leben" und meint damit eine Höhle, die für Islam und Judentum heilig ist, eines dieser streitbaren Landstücke, wenn es um die Zweistaatenaufteilung geht.
Ich frage Adam, ob das für ihn mit Ideologie zu tun hat. In dieser Stadt leben jüdische Siedler, israelische Soldaten und palästinensische Einwohner so eng beieinander, dass man sie immer wieder nicht bereisen darf. Etwa, weil Siedler Löcher in palästinensische Wassertanks geschnitzt haben. Der junge Mann sagt freundlich, dass er keiner der Steinewerfer sei, dass er in Hebron lebe, weil die Talmudschule besonders gut und der Ort besonders schön sei.

Bushaltestelle

FM4 / Clara Trischler

Seltsam also: Ich sehe auf die zweigeteilte Wüste dieses Landes (das Tote Meer liegt im Palästinensergebiet, aber die Straße, auf der wir dorthin kommen, darf nur von Israelis befahren werden) und bemerke, dass viele der jungen Siedler nicht bewusst politisch handeln, sondern naiv sind, mit ideologischer Überzeugung erzogen wurden oder da hinziehen, wo ihre Freunde studieren. Das ist das israelische Hindernis für den Frieden?

Sinnsuche statt Stadtgestank

Matan auf der Demonstration anlässlich des 42. Jahrestags der israelischen Besatzung 1967. Seine israelischen Eltern leben in einem Haus auf palästinensischem Gebiet.

FM4 / Clara Trischler

Matan auf der Demonstration anlässlich des 42. Jahrestages der israelischen Besatzung 1967. Seine israelischen Eltern leben in einem Haus auf palästinensischem Gebiet.

Bevor sie Siedler wurden, lebten viele von ihnen an vernachlässigten Orten, in beengten Wohnungen, die andere beengte Wohnung überblickten, in einer Luft voll Stadtgestank und lauter Stimmen. Vom Staat sind ihnen billige Häuser angeboten worden, in Gaza etwa am Meer, und gute Jobs in der Landwirtschaft oder am Bau. Die zukünftigen Siedler wollten mehr für sich und ihre Familien – Kleinstadt, frische Luft, keine Drogendealer. Und Sinn im Leben.

Selbstgefühlte, aus alltäglichen Gründen an Aufmerksamkeit arme Normalos, die sich vom Leben vielleicht andere Dinge gewünscht haben, als sie bekamen, fühlen sich als Helden, kämpfen für etwas Bedeutendes, ein oder: ihr Land. Sie spielen eine Rolle in der Geschichte, erfüllen eine Bestimmung.

2 rothaarige israelische Werbekinder

FM4 / Clara Trischler

Sobald Babies geboren wurden, sobald Erinnerungen gemacht sind

Siedler sind aber auch (amerikanische) Einwanderer, die sich schöne, teure Wohnungen gekauft haben, die auf palästinensische Häuser sehen. Amn spürt kaum, dass man sich nicht in Israel bewegt, denn der visuelle Stadtplan ist geschmückt mit Einkaufszentren, manikürten Rasen, gelb-roten Gehsteigen und funktionierender Müllabfuhr. In den grünen Siedlungen gibt es fließendes Wasser, rundherum aber ist Wüste und Wasserregulationen bestimmen den Verbrauch der umliegenden palästinensischen Dörfer.
Die meisten der Siedler sind keine gewehrtragenden Zionisten, aber sobald Babies geboren werden, sobald Erinnerungen gemacht sind, ziehen sie aus den Siedlung sicher nicht mehr raus. Menschen machen Orte, Orte machen auch Menschen.

Hauswarming Party in zuvor demoliertem Haus, Ostjerusalem.

FM4 / Clara Trischler

Palästinensische Familie in Ostjerusalem. Ihr Haus wurde eben abgerissen. In drei Tagen haben AktivistInnen es wieder aufgebaut.

Das heißt: Je mehr gesiedelt wird, je mehr Israelis in palästinensischen Gebieten leben, desto kleiner ist die Chance auf eine Zweistaatenlösung.

44 muslimische Länder und ein Israel

Im kleinen Land mit drei Meeren kann man vermutlich an jedem Tag im Jahr dunkelgelockte Menschen um ein Lagerfeuer Gitarre spielen finden.

Die jugendliche Subkultur teilt sich auch jetzt noch in Hippies und Nicht-Hippies. Israels Anfang klingt romantisch: Menschen zogen in den Kibbutz, um nach sozialistischen Regeln miteinander zu leben, das Wüstenland zu begrünen und bloß füreinander zu arbeiten. Mit einer neuen Sprache und neuen Regeln wollte man einen Staat ganz von vorne aufbauen. Die Menschen in diesem Land sollten doch ein Zusammengehörigkeitsgefühl, ihren Glauben oder ihr Schicksal, teilen.

kindersport, israel 40/50er Jahre

FM4 / Clara Trischler

Kindererziehung zu Israels Anfängen

Natürlich mussten alle ohne Geld, ohne der geliebten, aber getöteten Familie, auf brachem Land ganz von vorne anfangen. Natürlich musste etwa ein Jusstudent vermutlich in seinen ersten Monaten nach der Ankunft am Strand Müll sammeln und erst das englische, dann das israelische Recht nachlernen. Natürlich hat das Gefühl, ein Recht auf diesen Staat zu haben, dazu geführt, Anderen dieses abzusprechen.
Aber, fragt mich meine amerikanische Freundin Emily, die nach vielen Reisen in Israel am richtigen Ort angekommen zu sein scheint: "Es gibt etwa 44 Länder muslimische Länder. Warum sollten wir nicht das Recht auf einen jüdischen Staat haben?"

Nie wieder heiraten, nie wieder Krieg

2 alte Damen in Plastikstühlen am Toten Meer

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Im Film "The Cemetery Club" treffen sich eine Gruppe älterer Menschen einmal in der Woche zu Picknick und Diskussion am Friedhof in Jerusalem. Hier Minya und Lena am Toten Meer.

Lilly Brill ist eine helle, gepflegte Frau, 88 Jahre alt. Ich bin nach Tel Aviv gefahren, um sie in einem Altenheim für Menschen aus der ehemaligen österreich-ungarischen Monarchie zu treffen. Sie erzählt mir, wie glücklich sie sei, dieses Land zu haben. Als sie ihren Eltern, die beide drei Jahre in Lagern gewesen waren, zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wiederbegegnete, erkannte sie sie nicht.
"Du kannst dir das nicht vorstellen. Das kann man nicht verstehen.
Menschen, die sie nie gesehen haben kommen herein, töten die meisten, die sie sehen, und fertig."

Lilly Brill wuchs in der nach-österreich-ungarischen Bucovina mit österreichischem Essen und auch sonst in jeder Hisicht österreichisch auf, musste aber schließlich rumänisch lernen, weil dasselbe Gebiet nun Rumänien hieß. "Jedesmal soll man eine neue Sprache lernen und eine Existenz aufbauen. Man kann sagen, wir wären einmal hierher und einmal dorthin gefallen, aber ich sage: Nein, wir sind nicht gefallen, wir wurden geschmissen!"
Nach dem Krieg hieß dasselbe Gebiet Sowjetunion, und aus dieser war ihr noch 15 Jahre lang nicht erlaubt, nach Israel zu ziehen, obwohl sie es wegen der antisemitischen Atmosphäre immer wollte.

Lilly heiratete im Ghetto. Ihrem Mann ist sie mit 18 begegnet, drei Jahre lang waren sie nur befreundet. Er war jemand, der dieselben Freunde hatte, jemand, der in Wien studierte. Die beiden bekamen erst nach elf Jahren Ehe ihr erstes Kind, weil sie vorher keinen Ort fanden, der sich sicher anfühlte. Ob sie noch einmal heiraten wolle, will ich wissen, "Wozu?", fragt Lilly, "da holt man sich nur Ärger."

Fritz Eisenberg, 103.

FM4 / Clara Trischler

Der 103jährige Fritz Eisenberg kann noch viele Opern mit vollem Text auswendig singen und kennt auch mehr deutschsprachige Weihnachtslieder , als irgendjemand sonst, den ich an diesem Tag treffe.

"Man könnte viel schöner leben"

Lilly bietet mir eine Mozartkugel an und ich lache, weil das passt, weil ich mich in den letzten Tagen immer wieder nach Wien gewünscht habe, aber sie ist weich geschmolzen, weil wir in Tel Aviv sind.

Gestern war Probealarm, aber das wusste keiner. Alarmsirenen haben tief gebrummt, die alten Emigranten aus den Ländern der ehemaligen österreich-ungarischen Monarchie eilen unvorbereitet die Stiegen hinunter. Lilly hatte eine Gänsehaut und dachte nur: Nicht noch einmal Krieg. Sie will nie wieder Krieg miterleben. "Das war nicht lustig." Ich komme nicht mehr dazu, sie zu fragen, ob sie sich hier nicht eigentlich auch im Krieg fühlt, sie hat doch bestimmt Enkel in der Armee.

"Man könnte viel schöner leben", sagt Lilly, sie hasse Politik. "Seit acht Jahren versuchen wir, mit Arabern am Tisch zu sitzen und die Hand zu reichen", aber solange sich die radikalislamische Hamas aus Gaza und die moderate Fatah aus dem Westjordanland nicht auf eine Stimme einigen können, könne man ja nicht miteinander reden.

Dass sie gerne Palatschinken und Erdäpfelsalat kochte, erzählt Lilly noch, und dass ihr Sohn sie an diesen Tagen dann immer "Mama" statt dem hebräischen "Imma" nannte.

notizen eines alten mannes

FM4 / Clara Trischler

Schließlich frage ich Lilly Brill, ob sie sich fotografieren ließe und sie meint, dass sie es nicht wichtig fände, wer was gesagt habe, das interessiere doch keinen. Es ist schwer, Frauen in diesem Altersheim zu finden, die sich fotografieren lassen. Ich vermute, das liegt an dem Bruch zwischen wie alt sie sich fühlen und wie ihre Haut die vergangenen Jahre festgehalten hat. Vor kurzem wurden mir Sartres Worte ins Ohr geflüstert, dass man nur für die anderen älter würde, nicht für sich selbst. "Der Mensch soll immer ein bisschen Kind in sich lassen", sagt sie jedenfalls zu mir, nachdem wir eine Weile schweigend an ihrem Tisch sitzen. "Erwachsen ist man genug."

Erst teile ich mir ein Auto mit einem jungen Siedler unter dessen Naivität ich erfolglos versteckte Militanz suche und dann begegnet mir diese schmucke Dame, die mir sehr verständlich macht, warum es den Staat Israel geben muss, bloß nicht, warum er heute so sein muss, wie er ist.