Erstellt am: 10. 6. 2009 - 18:00 Uhr
Hallogallo
"Musik ist, wie ... Liebe"
Interview mit Michael Rother über Zufälle, die zu Lebenswegen werden.
1994 veröffentlichte der englische Popmusiker und Musikjournalist Julian Cope ein Buch mit Namen Krautrock Sampler. Cope listet in seinem Buch die 50 besten Krautrockalben aller Zeiten auf bzw. das was Cope für die 50 besten Krautrockalben hält. Krautrock Sampler ist ein wahnwitziges Buch eines gut fanatisierten Fans. Julian Cope übertreibt maßlos, erfindet Geschichten, lügt und kreiert noch nie gehörte Wortkonstrukte. Krautrock Sampler ist der ideale Einstieg wenn man dieser mythischen Musik auf die Schliche kommen will.

Julian Cope
Hohelieder
Als Krautrock bezeichnet man eine deutsche Popmusikströmung, die sich Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger in Westdeutschland formierte. Dazu werden Bands wie Amon Düül, Kraftwerk, Popol Vuh, Can, Faust oder Neu! gezählt. Alles sehr unterschiedliche Artisten mit total unterschiedlichen Musikansätzen. Frühe Elektronik oder Neo Klassik mit Jazz, Psychedelic und drogengeschwängerte Improvisationen. Was diese Bands zu einem Phänomen einte, war der unorthodoxe Zugang zum Musikschaffen. Die Lust am Experiment. Die Improvisation und erstmals die Rückbesinnung auf deutsche Musiktradition und Einbindung deutscher Klassik und Folklore in Popmusiken. Die Amerikaner und Engländer waren fasziniert, was ihnen da die langhaarigen Freaks aus Deutschland servierten, und nannten diese Musik ohne Grenzen – Krautrock.
Tongebirge
1968 gründen die Düsseldorfer Ralf Hütter und Florian Schneider die Musikgruppe Organisation. Bald schließen sich ihnen die jungen Männer Klaus Dinger und Michael Rother an. Auf der einzigen Platte von Organisation, Tone Float, fabriziert die Band einen unfassbaren musikalischen Freakout, der zwar nicht so wegweisend wie das synthetische Produkt Kraftwerk sein sollte, aber dafür noch ein Niveau höher.
Außerirdische, kompromisslose kosmische Reisen. Michael Rother an der Gitarre und Klaus Dinger am Schlagzeug treiben einen Endzeitbeat unbarmherzig voran und Hütter und Schneider geben sich dazu der Klangforschung an manchmal nicht definierbaren Instrumentarien hin. Nach dieser einen Platte steigen Rother und Dinger aus und gründen ihr eigenes hocherfolgreiches Projekt Neu!. Schneider und Hütter widmen sich Kraftwerk – und sind ein paar Jahre später internationale Popgiganten.

Neu!
Dinger und Rother entscheiden sich für den beschwerlichen und steinigen Weg und spielen in nur vier Nächten ihre selbstbetiteltes Debütalbum Neu! ein. Während sich ihre ehemaligen Kollegen von Kraftwerk ganz der Synthetik hingeben, setzen Rother und Dinger weiter auf herkömmliche Maschinen wie das Schlagzeug und die Gitarre. Allerdings fabrizieren sie damit einen rhythmische Raserei, die auch noch in 100 Jahren utopisch klingen wird. Große erhabene Mantras. Vorwegnahmen von so vielen Stilen die danach die Clubs oder Garagen dominieren sollten. Dinger treibt sich und sein Schlagzeug unbarmherzig auf phonetischen Autobahnen dahin. Rother legt mal epische dann wieder sägende Themen mit seiner Gitarre dazu. Und dann taucht da, wie auch bei Kraftwerk immer eine Ahnung von deutscher Folklore auf.
Hallo Exzentrico!
Große kommerzielle Hits konnte man damit auch im progressiven 1971 nicht landen. Aber Neu! beinflussen nachhaltig und stetig. Später wird David Bowie mit Michael Rother in der Band Harmonia spielen. Noch viel später wird John Frusciante mit Michael Rother eine Platte aufnehmen.
Neu! veröffentlichen drei Alben auf dem legendären Brain Label. Neu! wachsen von Platte zu Platte. Und Klaus Dinger treibt den den neuen Futurismus noch mit den nüchternen Pop-Art-Cover der Platten auf die Spitze. Mitte der Siebziger wenden sich Dinger und Rother anderen und eigenen Projekten zu. Rother mischt bei Cluster und den schon erwähnten Harmonia mit. Dinger gründet mit seinem Bruder Thomas Dinger den ebenfalls schon längst fleischgewordenen Mythos La Düsseldorf.

Feraltone (Cargo Records)
In den Achtzigern wollen Michael Rother und Klaus Dinger ihre gemeinsame Band wieder aktivieren, verzetteln sich aber in endlosen Streitereien die bis zum Tod von Dinger nie ganz aufgelöst wurden. Dazu muss man sagen, Klaus Dinger galt als unberechenbarer Exzentriker vom Schlag eines Klaus Kinskis. Ich konnte das mal am eigenen Leib erleben, als Herbert Grönemeyer 2001 Dinger und Rother dazu bewegen konnte, ihre ersten drei Platten auf seinem Label Grönland wieder zu veröffentlichen. Dinger und Rother waren sich damals noch immer spinnefeind und gaben ihre Interviews in getrennten Etagen in der Plattenfirmazentrale. Nun gelang es mir zwar Klaus Dinger mit Tricksereien gnädig zu stimmen, seine Unberechenbarkeit lies er dafür an Plattenfirmenschergen aus, die ihm während des Interviews ununterbrochen - ja fast minütlich - viele verschiedene Wünsche wie Sushi, Tee, Kekse, kleine Snacks, Handtücher oder Rauchwaren besorgen und servieren mussten.
Nichts destotrotz erlebte ich Dinger wie auch Rother als hochintelligente Künstler mit derart klaren Visionen, die im Laufe ihrer langen Karriere immer konzentrierter wurden.
Klaus Dinger starb am 20. März 2008, vier Tage vor seinem 62. Geburtstag an Herzversagen. Vor seinem Tod schrieb er noch an einem Soloalben sowie Archivveröffentlichungen von La Düsseldorf.
Soeben ist die Tribute-Compilation Brand Neu! erschienen. Primal Scream, Kasabian, Sonic Youth, Oasis, Foals, LCD Soundsystem oder School Of Seven Bells interpretieren Neu!