Erstellt am: 9. 6. 2009 - 11:55 Uhr
Turn on, tune in, drop out
Hörtipp!
Morgen abend im FM4 House Of Pain (22-00):
Christian Fuchs und Dr. Nachtstrom tauchen zwei Stunden lang in die Welt von Kasabian ein, inklusive Greatest Hits, Livetracks, einem Interview, das Albert Farkas beisteuert, und natürlich ausführlichen Hörproben aus "West Ryder Pauper Lunatic Asylum".
Innerhalb der ziemlich umfangreichen FM4-Mannschaft gehöre ich wohl zu den Festival-scheuesten Gestalten.
Das hat viele Gründe, mit denen ich hier niemanden langweilen will, sagen wir nur so viel: Mir bereitet dichtes Menschengedränge schon im öffentlichen Verkehr gröbere Probleme. Nervige Plaudertauschen, die ihre Meinung rausbrüllen und dabei das Fotohandy schwenken, haben mir bereits etliche Clubgigs verdorben. Vor allem bin ich aber gröberen Witterungswechseln gegenüber höchst unresistent. Im Gegenzug mag ich an so was Schreckliches wie praktische Outdoor-Kleidung nicht einmal denken.
Versautes Schuhwerk und klatschnasse Haare hin oder her: Am heurigen FM4 Frequency kommt auch meine Wenigkeit nicht vorbei. Die Aussicht, endlich die famose Disco-Diva Grace Jones zu sehen, lässt mein Herzerl ebenso pochen wie die Auftritte von Little Boots, Crystal Castles oder dem großen Jarvis. Ja, der Radiohead ist auch da, sehr fein.
Schon jetzt mein favorite Frequency guilty pleasure sind aber ein paar Kerle von der Insel, die mich eventuell zu würdelosen Tanzschritten und einer kleinen Freiluft-Ekstase treiben werden. Ich kann das deshalb so genau vorhersagen, weil ich Kasabian vor einigen Jahren bei einem Open Air im Londoner Hyde Park gesehen habe und auch damals hingerissen war.
Es mag sich kitschig anhören, aber sogar die Putztruppen legten damals ihre Mistkübel weg und tanzten, eine Art von Euphorie lag in der Sommerluft, die fast alle mitgerissen hat.
Sony
Kasabian, die Band der tausend Missverständnisse, weder Fisch noch Fleisch, Rock, Pop oder Rave, irgendwie alles zusammen und doch etwas ganz anderes, genau wie ich es liebe. Manchmal bis zur schönen Lächerlichkeit und ins herrlich Maßlose überzogener Glam-Rock'n'Roll mit eingestreuten Elektronik-Referenzen.
Am schnellsten ist da bei manchen Kritikern die Oasis-Schublade offen, weil Noel Gallagher ein Oberspezi der Band ist und auch der Dauernörgler Liam sie schätzt und die gemeinsamen ausgelassenen Feierstunden viele NME-Seiten füllten.
Nun, ich kann nur sagen, Oasis tangieren mich bis auf ein paar Songs so gut wie gar nicht, Brit-Pop fehlt - mit Ausnahme von Blur und Pulp - in meiner Sozialisation, Pub-Rock hört sich nach Strafmaßnahme an, und ich mag weder Bierräusche noch Fußball. Soll heißen: Kasabian können gar keine Gallagher-Klones sein, sonst wären sie mir nämlich wurscht.
Ein bisserl Madchester-Traditionspflege darf man dieser illustren Truppe schon nachsagen, aber eher nur in der Theorie, praktisch ist der Schatten von Shaun Ryder nicht auszumachen auf der Bühne. Wenn es eine Band gibt, der Kasabian ganz viel verdanken, dann sind das die Retrofuturisten von Primal Scream - und hier liegt auch der Fankonnex meinerseits.
Sony
Im Grunde ist die Sache ganz einfach: Die beiden Kasabian-Obergockel, Gitarrist und Mastermind Serge Pizzorno und Sänger Tom Meighan, das sind Rock'n'Roller, die ganz selbstverständlich mit Hip Hop, Techno und der Danceculture aufgewachsen sind, für die ein Sixties-Gitarrenzitat ebenso selbstverständlich ist wie ein Rave-Break.
Es ist nicht nur dieser Eklektizismus, der das Scream-Team und Kasabian verbindet. So wie das Gesäusel von Bobby Gillespie immer die Aggression seiner Songs ausbremst, so fehlt es Kasabian bei allem Geprotze und manchmaligem In-den-Schritt-Greifen an Machismo.
Diese Musik mag, wie einige der größten Rockcombos und Danceacts, mit niederen Instinkten spielen, sie strotzt vor Attitude, aber gleichzeitig ist da eine dezidierte Softness, die jegliche Ladrock-Vorwürfe ausbremst. Das gilt auch für das dritte Kasabian-Album, das im Hintergrund aus den Boxen tönt, während ich diese Zeilen schreibe.
Roher, direkter, ungeschliffener als der bewusst slicke Vorgänger "Empire" klingt "West Ryder Pauper Lunatic Asylum", aber auch in den wüstesten Momenten schwingt eine offensive Zärtlichkeit mit.
Zumal die Balladendichte hoch ist auf dem Album. "Thick As Thieves" klingt nach folkigen Beatles, "Happiness" nach Primal Scream und Bob Dylan am Gospel-Lagerfeuer, die lässige Outlaw-Hymne "West Ryder Silver Bullet" vereint Tom Meighan stimmlich mit der "Sin City"-Darstellerin Rosario Dawson. Blubbernde Synths und Drumboxen steuern dem Klassizismus immer wieder entgegen.
Beggarsgroup
Wenn es einen verbindenden Begriff zwischen all den verschiedenen Klangwelten gibt, die Kasabian zusammen mit ihrem Produzenten Dan "The Automator" Nakamura betreten, den Soundtrack-Referenzen, den flirrenden Gitarren, Sitar-Solos, Pink-Floyd-Einschüben und The-Doors-Orgeln, dann ist das: Psychedelik.
Begreift man dieses Wort nicht in einem puren nostalgischen Sinn, sondern in einem Kurzschließen der Ära der Sechziger und Siebziger mit der Gegenwart, landet man schnell bei einer anderen tollen UK-Combo.
Die Kunststudenten-Truppe The Horrors hat eventuell ein paar existentialistische Bücher mehr gelesen als die Provinz-Hooligans von Kasabian (wenn man sich auf diese dämliche Ebene herablässt), aber eine Vorliebe für lustige Posen, lustige Pillen und vor allem bewusstseinserweiternde Sounds sämtlicher Varianten eint beide Bands.
Mit dem manischen Debütalbum "Strange House", das sich an den monströsen Psychobilly von The Cramps und an Nick Caves Todesblues-Combo The Birthday Party anlehnte, ließ das Londoner Quintett erstmals aufhorchen. Vorwürfe einer gehypten Frisurencombo ohne eigene musikalische Einfälle wurden The Horrors aber nie los.
Bis jetzt, denn mit ihrem zweiten Album "Primary Colours" spielen die Briten in einer ganz anderen, regenbogenfarbigen Kategorie. Mit Hilfe begnadeter Knöpferldreher wie Geoff "Portishead" Barrow und dem Ex-Videoclip-Gott Chris Cunningham gelang den horriblen Buben, ein neo-psychedelisches Meisterwerk irgendwo zwischen dem süßen Shoegaze-Lärm von My Bloody Valentine, hypnotischer Elektronik, motorischen Neu!-Beats und schneidenden Garagenrock-Gitarren.
Es kann nicht immer nur Brooklyn sein, wo derzeit die narrischen Schwammerl wachsen. Auch in England ist gerade was im Trinkwasser. Wie hat der psychedelische Guru Timothy Leary gesagt? Turn on, tune in, drop out.
Sony