Erstellt am: 7. 6. 2009 - 13:17 Uhr
Lob des Spätkaufs
Weiß man doch inzwischen von den Stadtsoziologen, dass sich an der Anzahl der Spielcasinos die Verelendung eines Quartiers messen lässt.
So standen auch in meinem Straßenblock im hinteren Kreuzberg elf Läden leer, und man befürchtete das Schlimmste. Aber statt Spielcasinos und anderen Elendsbranchen haben inzwischen auf weniger als einem Quadratkilometer fünf Spätkaufs oder Spätkäufe eröffnet. Die Pluralform ist noch nicht klar aber der Spätkauf ist ein Erfolgsmodell und dabei ein ostdeutsches Phänomen.

Christiane Rösinger
Früher, zu Mauerzeiten da half im Westen nach 18 Uhr nur noch die Tankstelle. In Ostberlin hatten die staatlichen Einzelhandelsmärkte Öffnungszeiten bis nach Mitternacht, weil die Schichtarbeiter ja auch Gelegenheit zum Einkauf haben sollten. Nach der Wiedervereinigung sicherte eine Bestandsklausel im Einigungsvertrag den Fortbestand dieses gelockerten Ladenschlussgesetzes. So wurde der Spätkauf in den Neunzigern langsam nach Westberlin importiert und wird hier inzwischen hauptsächlich von türkischen und arabischstämmigen Familien betrieben.
Gab es zuerst nur Alkoholiker- Raucher- und Partybedarf ist das Sortiments inzwischen um Grundnahrungsmittel, Fertiggerichte, Suppen, Lotto, Handykarten, Coffee to go, Backwaren, Zeitschriften, Tiernahrung ergänzt. Das alles billiger als in der Tankstelle, mit netterer Bedienung und gnädigerem Licht.
Bei all dem Lob des Spätkaufs muss man natürlich sehen, dass solche Ökonomien nur unter Bedingungen funktionieren, unter denen kaum einer der Kunden arbeiten wollte.

Christiane Rösinger
Aber die Kundenorientierung im Spätkauf ist nicht genug zu loben. Während die Servicementalität des Berliner Handels sprichwörtlich ist: "Ham wer nich - Der Nächste" ist der Spätkauf, auch liebevoll "Späti" genannt, ein Kundenparadies.
Der Spätkaufinhaber betreibt genaue Marktbeobachtung: Die Kundschaft verlangt öfter nach Red Bull und Jägermeister, mixt das zusammen und trinkt gleich auf der Straße bevor sie in die Clubs geht? Wenige Tage später wird das Getränkeset plus handlichem Plastikbecher angeboten. Und ganz nebenbei ist so der seit den Siebzigern ausgestorbene Tante-Emma-Laden, das Pendant zum österreichischen Greißler, in Form des Spätkaufs wieder zurückkehrt. Im Trendbezirk Prenzlauer Berg aber musste der erste Spätkaufs leider schon wieder aufgeben, weil die Ladenmiete in der gentrifizierten Gegend auf 4000 Euro angehoben wurde.