Erstellt am: 4. 6. 2009 - 21:40 Uhr
Die EU ist weit entfernt
- Die EU-Wahl auf FM4
Gábor ist einer von rund 350.000 jungen Ungarn, die am 7. Juni 2009 zum ersten Mal wählen dürfen. Der 20-jährige Philosophiestudent wird am Sonntag aber lieber im Bett bleiben. „Weil ich gar nicht genau weiß, worum es bei der Wahl zum Europäischen Parlament geht und wen ich wählen soll.“ Dass Gábor so wenig über die EU und das Wahlprogramm der ungarischen Parteien weiß, liegt zum Großteil an der Art des Wahlkampfes. „Die beiden Großparteien haben sich bloß mit Parolen beschossen. Um Themen ging es dabei kaum“, sagt der Politologe Agoston Samuel Mraz. Geht man durch die Straßen Budapests hat man tatsächlich den Eindruck, am 7. Juni stünden Parlamentswahlen bevor. „Elég/Es reicht!“ steht auf den Plakaten der nationalkonservativen Oppositionspartei Fidesz, die laut Umfragen schon jetzt zu den großen Wahlsiegern zählt.
marilang
Gemeint ist aber nicht die EU, sondern die Arbeit der sozialistischen Minderheitenregierung unter Premierminister Gordon Bajnai, die zum Sündenbock für alles Schlechte wird: die miserable wirtschaftliche Lage des Landes, die steigende Arbeitslosigkeit, die hohe Verschuldung zahlreicher Privathaushalte etc.
Partei-Hickhack
„In Ungarn ist Politik immer nur Partei-Hickhack“, sagt Gábor, der mit einer Freundin in einem Budapester Park sitzt und lieber über Kants Philosophie, als über die bevorstehende EU-Wahl diskutiert. „Politik interessiert mich nicht wirklich. Vielleicht, weil es hier so frustrierend ist.“ Hickhack als Motto zieht sich auch durch die Wahlkampagne der sozialistischen Regierungspartei MSZP. Sie hat sich ganz der Kritik ihrer Gegner, der Rechten, verschrieben. In einer Plakatserie erklären Durchschnittsungarn, warum sie links bzw. nicht rechts wählen – „weil ich treu bin“ und „weil die Rechten mit den Extremisten zusammenarbeiten“. Laut dem Politologen Agoston Samuel Mraz machen diese einfallslosen Aussagen die kritische Lage der Sozialisten deutlich. „Anstatt auf Sachthemen zu setzen, greifen sie die Rechten an und verhelfen ihnen damit wahrscheinlich zu noch mehr Popularität.“ Eine aktuelle Umfrage des ungarischen Marketing Centrums besagt, dass 61% der Befragten für Fidesz, aber nur 19% für MSZP stimmen würden. Ganze 8% würden die rechtsradikale und derzeit noch außerparlamentarische Jobbik-Partei wählen, die somit gute Chancen auf eines der 22 ungarischen EU-Mandate hätte. Seit Beginn der Wirtschaftskrise Mitte 2008 wird die Partei des 31-jährigen Gábor Vona, der auch Chef der paramilitärischen Ungarischen Garde ist, immer stärker. Sie polarisiert vor allem mit nationalistischen und rassistischen Aussagen und wettert lautstark gegen die Roma im Land.
Unwissend zur Wahl
„Es kann doch nicht sein, dass sich in Ungarn immer nur die Extremisten durchsetzen“, schimpft die 19-jährige Orsolya, die am Sonntag mit vollster Überzeugung zur EU-Wahl gehen wird. „Man kann nicht immer nur rummeckern und dann zu Hause bleiben.“ Die junge Budapesterin besucht seit einem Jahr eine Textilfachschule und möchte auf jeden Fall mal ein Semester im Ausland studieren. „Durch den EU-Beitritt vor fünf Jahren ist das schon viel einfacher geworden, denke ich. Ich kenne viele Leute, die in den letzten Jahren ins Ausland gegangen sind, um zu studieren oder zu arbeiten“, sagt Orsolya. Aber abgesehen davon wisse auch sie nicht genau, wozu die EU eigentlich gut sei. Diese Unwissenheit kann man einerseits auf die eben beschriebene Art des Wahlkampfes zurückführen, andererseits auf die Berichterstattung in den Medien. „Es gibt zwar immer wieder Artikel über die EU, aber man muss sich schon sehr für das Thema interessieren, damit man wirklich was erfährt“, meint Agoston Samuel Mraz, der auf der Budapester ELTE Universität Politik unterrichtet. „Selbst meine Studenten, die künftige Elite des Landes, weiß viel zu wenig.“ In den Boulevardmedien kommen die Europäische Union und die bevorstehende Wahl, übrigens die zweite seit dem Beitritt Ungarns, noch seltener vor. Eine Kronenzeitung, wie in Österreich, die EU-Geschimpfe zum Volkssport macht, gibt es in Ungarn nicht. An den Stammtischen im Wirtshaus sind die Gurkenregelung oder sonstige EU-Verordnungen kein Thema. Wenn auf „die da oben“ geschimpft wird, dann meistens auf die eigene Regierung, die ohnehin genügend Angriffsfläche bietet.
marilang
Schwindendes Interesse
Das Interesse an den EU-Wahlen ist, laut Eurobarometer-Umfrage aus dem Vorjahr in vielen europäischen Ländern gering. Gerade einmal 30 Prozent der insgesamt 375 Millionen Wahlberechtigten wollen ihre Stimme am 7. Juni abgeben. Besonders in den osteuropäischen Mitgliedsländern wird ein Rekordtief bei der Wahlbeteiligung befürchtet, allen voran in Polen und der Slowakei. In Ungarn dürfte die Wahlbeteiligung, die im Jahr 2004 bei 38 Prozent lag, kaum bis nur leicht zurückgehen. Vergleicht man die Zahlen jedoch mit der rund 65-prozentigen Wahlbeteiligung bei der vergangenen nationalen Parlamentswahl erscheint das Interesse an der EU-Wahl doch sehr gering.
Ein erster EU-Frust scheint sich bei den Ungarn einzustellen. Das Strategie-Institut „Nézöpont“ wollte in einer im März durchgeführten Umfrage wissen, ob die Menschen die Mitgliedschaft Ungarns eher positiv oder negativ beurteilen. Eine knappe Mehrheit der Über-30-Jährigen meint, die EU sei für Ungarn eher von Nachteil, während die Mehrheit der Unter-30-Jährigen das Gegenteil behauptet. Der 20-jährige Philosophiestudent Gábor bestätigt das Ergebnis: „Ich weiß zwar nicht genau warum, aber ich habe schon das Gefühl, dass die EU Ungarn gut tut. Ich sehe mehr Touristen, und es wird mehr gebaut. Ich kann mir vorstellen, dass da EU-Gelder im Spiel sind.“
marilang
In den letzten Monaten war es jedoch unübersehbar, dass die Beitrittshoffnungen auf wirtschaftlichen Aufschwung und eine deutliche Verbesserungen der Lebenssituation von den Rädern der Wirtschaftkrise zermalmt wurden. Der ungarische Durchschnittslohn liegt immer noch deutlich unter dem EU-Durchschnitt, Mieten und Lebenserhaltungskosten sind vergleichsweise hoch, und viele Menschen sind von Arbeitslosigkeit bedroht. Dennoch blickt die 19-jährige Orsolya optimistisch in die Zukunft. Sie hat das Glück studieren zu können und schmiedet schon ambitionierte Pläne. Nach dem Studium möchte sie eine eigene Modedesignfirma gründen. Trotz Optimismus glaubt aber auch sie, dass es Zeit wird für eine politische Veränderung im Land.
lmp
Deshalb wird sie am Sonntag der neu gegründeten Linkspartei LMP ihre Stimme geben. Diese trägt ihr Programm auch gleich im Namen – „Lehet más a politika / Die Politik kann anders sein“. Im Februar aus einer Bürgerinitiative entstanden, setzt die junge Partei vor allem auf Umwelt- und Sozialthemen und hat ihre Unterstützer hauptsächlich im städtischen Intellektuellenmilieu. Im Europäischen Parlament will LMP, deren Mitglieder großteils unter 40 Jahre alt sind, in der Fraktion der Grünen sitzen. Chancen, die nötige Fünf-Prozent-Hürde, die sie für ein Mandat bräuchten, zu erreichen, räumen Politologen der Newcomer-Partei aber nicht ein. Orsolya drückt jedenfalls die Daumen. „Ich werde alle meine Bekannten mobilisieren, weil die Politik KANN nicht nur, sondern sie MUSS anders werden.“