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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

3. 6. 2009 - 16:51

Journal '09: 3.6.

Das Europa der faulen Willis. Oder: warum 2D-Wesen sich in der dritten Dimension immer schwertun.

Ich bin heute ganz froh, mir gestern Abend die TV-Elefantenrunde der EU-Spitzenkandidaten doch nicht angesehen und stattdessen einen ironisch-reflektiven Abend bei Rocko Schamoni im Rabenhof verbracht zu haben: Ich hätte mich über den oberflächlich Austausch von Worthülsen ohnehin nur geärgert. Ein kurzes Abchecken der On-Demand-Aufzeichnung und das Überfliegen der diversen Zusammenfassungen bestätigen das. Fürs leidvolle Betrachten besonders peinlicher öffentlicher Auftritte gibt es den Begriff des "Fremdschämens", für Runden wie diese gilt dann also eine Art des "Fremdärgerns".

Fremdärgern

Ich bin mir bei derart emotionalen Reaktionen durchaus im Klaren, dass das gefährlich nah an der Linie der Populisten entlangschrammt, die genau diesen Überdruss der Meisten ausnützen. Was dann etwa in der Aussage, dass "es" die EU "nur so" kapieren würde, mündet. Über das "was" zerbricht sich bei so einer Formulierung keiner den Kopf.

A propos Plakatwerbung...

Das hat wiederum mit der Komplexität zu tun, die man seinen Botschaften zutraut. Und das ist sehr genau definiert: Kommunikationsforscher haben dieser Tage die EU-Programme und Broschüren der Parteien genau darauf abgeklopft.

der faule willi

orf

Das Ergebnis ist wenig überraschend:
"Beim BZÖ reicht ein Pflichtschul-Abschluss. Die FPÖ richtet sich schon an Berufsschüler. Die Liste Martin braucht Gymnasiasten der 7. Stufe, die ihre Programme verstehen sollen. Bei der SPÖ liegt man nur noch auf Platz sechs. Das verlangt schon Matura-Niveau. Bei der KPÖ braucht man einige Jahre Hochschulstudium, um das zu verstehen. Bei den Jungliberalen ist praktisch ein voller Uni-Abschluss nötig, um da durchzusteigen."

Gurken und Glühbirnen

Natürlich ist die Unverständlichkeit der Begrifflichkeiten ein Problem - sich dann aber auf Glühbirnen und krumme Gurken draufzusetzen, um anhand dieser (gerne auch falschen) Beispiele allerhand durchzuexerzieren, reicht nicht.

Für jede Gurkenverordnung, die von Schmähführern (wider besseres Wissen; die Sache war nie wie öffentlich dargestellt und ist überhaupt längst wieder vom Tisch; nur nicht vom österreichweit existenten Stammtisch, diesem nachdenkresistenten Wiedergänger und -käuer) ausgepackt wird, für jede bewusste Instrumentalisierung des ultraheiklen Türkei-Themas braucht es ein Komplementär-Topic.

Und zwar eines, das ebenso griffig funktioniert und ebenso deutlich klarmacht, warum es nicht notwendig ist, dass "die EU" irgendetwas Diffuses gefälligst endlich zu kapieren habe, weil wir selber die EU sind.

Das ist mühsam, weil die im EU-Zusammenhang besonders zahlreich antretenden Populisten (letztlich agieren bis zu 5 der 8 kandidierenden Parteien mit klar populistischem Ausgangs-Material) sich einerseits auf die Vergesslichkeit und andererseits auf die Wurschtigkeit eines sehr desinteressierten Publikums stützen können, dem Widersprüche (wie sie z.B. hier angesprochen werden) gar nicht auffallen bzw. einfach egal sind, solange "es" "die in Brüssel" "endlich kapieren" würden.

Dimensionssprung

Womöglich ist die Diskrepanz zu groß, womöglich reicht auch der überdurchschnittliche Verstand nicht aus, um zu verstehen, was de facto passiert, in Brüssel oder Strasbourg.
Wer sich z.B. diesen nicht gestellten, recht realen Alltags-Tag des Abgeordneten Karas genau anschaut, wird den Anflug einer Ahnung kriegen, wie komplex es da zugeht.
Weil da neben den Landesinteressen und den Fraktionsinteressen auch noch bi- und multilaterales Denken nötig ist.

Deswegen kennt das EU-Parlament auch den in Österreich üblichen Fraktions-Zwang (dieses Relikt aus alten, demokratiepolitisch wenig erfolgreichen Zeiten) nicht. Deshalb sind Entscheidungs-Prozesse und Mehrheits-Findungen in Brüssel und Strasbourg auch umso schwerer und langwieriger.

Das Europa der faulen Willis

der faule willi auf einem t-shirt

ulli sunshine

Deshalb ist die EU bei uns so unpopulär. Man müsste über sie nachdenken; so richtig; und sogar in einer Art Dimensionssprung. Das ist für das 2D-Wesen, das sich erstmals mit der dritten Dimension auseinandersetzen muss, natürlich ein Wahnsinn; viel zu arg, Teufelswerk, abzulehnen, brrr.

Das, was - für viele da schon zu "kompliziert" - auf regionaler und nationaler Ebene beschlossen wird (Quatschbuden, die Dinge ausdiskutieren müssen, wo doch eh alles so einfach ist...), anstatt es einfach starken Männern, guten Königen oder lächelnden Supermännern zu überlassen, das wird auf europäischer Ebene noch einen Dreh wilder.

Weil eine kontinentale Versammlung, die halbwegs demokratisch agieren will, sich diesen Luxus des Drehens, Wendens, Durchdenkens, Anpassens, Befragens der Mitglieder und auch Lobbies einfach leisten muss.
Weil schon auf nationaler Ebene "einfache Lösungen" nur feuchte Träume und Wahlzuckerl für Naive sind, aber keine höhere Lebensdauer als eine Seifenblase haben, sind diese hohlen Sprüche, ist diese 2D-Denke für Europa natürlich völlig unbrauchbar.

Daraus resultiert das Misstrauen - dem Fremden gegenüber, dem undurchschaubaren Moloch, dem Feindbild der Kronen-Zeitungs-Partei, den Argen, denen man "es" echt reinsagen muss.

Das Madigmachen der Wahl

Die EU kann sich nicht nach dem Willen der Masse, demzufolge alles immer in Gurkenkrümmungs-Bildern aufgedröselt werden kann, beugen. Sie braucht Expertise, die Konzentration der besten Kräfte. Da die EU aber nicht die UEFA oder die FIFA, die de facto diktatorisch, naja, zumindest oligarchisch regiert werden, ist und auch nicht sein will, wird sie demokratisch beschickt.
Wie, das wird per Wahl bestimmt.

Einer Wahl, die die denkfaulen Willis mit ihren 2D-Parolen uns allen madig machen wollen. Nicht dass ich alle 3D-Bilder, um die es hier geht, gefahrfrei empfangen kann - weit gefehlt. Bloß: Ihre Existenz und deren Notwendigkeit sind mir bewusst.

Und das Geblöke derer, die ihr Nichts-Wissen, ihre Nicht-Kenntnis und ihr Nicht-Interesse als Tugend herausstreichen, und die Tatsache ihres Nichtwählerschaft mit Stolz vor sich hertragen, das erkenne ich als (geschönte) Kapitulation der 2D-Willis vor einer Realwelt, die sie (zu Unrecht) überfordert.

Wahrscheinlich hab ich die Elefantenrunde deshalb vermieden: weil ich es nicht ertrage, wenn Menschen, die vieles wissen, sich künstlich downsizen, um bei irgendeiner Zielgruppe besser zu landen. Und weil das bewusste Instrumentalisieren der Denkfaulheit der Menschen mir ein Gräuel ist.