Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Die Wiesenpredigt"

Arthur Einöder

POP: Partys, Obsessionen, Politik. Ich fürchte mich vor dem Weltuntergang, möchte aber zumindest daran beteiligt sein.

30. 5. 2009 - 16:49

Die Wiesenpredigt

Kraftwerk vs Urban Art Forms

Vielleicht hat der eine oder die andere bereits davon gehört: In Wiesen steigt dieses Wochenende das Urban Art Forms Festival. Da sind einerseits ganz schön viele Künstlerinnen und Künstler dort, die Tanzmusik auf elektronische Weise erzeugen. Andererseits auch Kraftwerk.

David Pfister über die Ursprünge von Kraftwerk

Eigentlich hab ich mir gedacht: Fahr dorthin, mach ein bisschen Party und schau dir zum Drüberstreuen noch ein wenig dieses Kraftwerk an. Kann nicht schaden. Doch Kraftwerk sind live eine Offenbarung und deswegen haben alle anderen Erfahrungen, die an sich auch recht schön waren, einmal kurz Nachrang.

vier schemenhafte Figuren hinter einer Leinwand

Christoph Kobza / FM4

Kraftwerk

Kraftwerk ist die Mensch-Maschine. Den ersten Song beginnen sie hinter einer weißen Leinwand, auf der sich nur die Konturen der vier Techniker abzeichnen. Ich bin ganz schön gespannt: Legenden, die im Alter live abkacken und dabei entweder eine Karikatur ihrer selbst ab- oder langweiligen Brei von sich geben, hab ich in letzter Zeit genug gesehen.

Der Vorhang geht hoch und innerhalb kürzester Zeit machen Kraftwerk alles klar: russischer Konstruktivismus via Visuals auf der Leinwand. In den Boxen ein messerscharf heutiger Sound: Die Verzögerung auf Grund von Problemen mit der Anlage hat sich ausgezahlt. Und Kraftwerk sind da, super präsent. Und obwohl lauter bekannte Gesichter rund um mich stehen, traue ich mich nicht, den Blick von der Bühne zu nehmen, oder zu plaudern.

Kraftwerk, die Mensch-Maschine, klingt nicht wie auf Platte, sondern besser. Wir schreiben das Jahr 2009 und Kraftwerk übersetzen den Klang ihrer Songs vollkommen unangestrengt ins Heute. Der Beat kickt, der Bass dröhnt. Kraftwerk biedern sich keinem Trend an und trivialisieren ihr Erbe nicht.

Obwohl wir alle dicht gedrängt unter dem Zeltdach der Hauptbühne stehen und gespannt lauschen, ist das kein wilder ekstatischer Rave-Zuckaus. Kraftwerk zelebrieren eine Predigt.

vier Männer in futuristischen Uniformen vor dem Schriftzug "Machine"

Christoph Kobza / radio fm4

Doch es ist eine Predigt, die mich traurig macht. Es ist, als würde ein alter weiser Mann zu mir sprechen, und mir ins Gewissen reden: Du hast keine Chance mehr! Es ist vorbei!

Denn Kraftwerk haben stets den Soundtrack zu einer Aufbruchsstimmung gemacht. Die Anfänge der elektronischen Klangerzeugung, die Bilder von Aufschwung, Wirtschaftswunder und Post-Wirtschaftswunder. Das Deutschland der Siebzigerjahre. Man kann sich jetzt etwas leisten. Der Fortschritt bringt uns weiter. Wir bauen Autobahnen, können uns sowohl im Staat als auch privat Prestigeobjekte leisten. Der Transeuropaexpress verbindet den Kontinent. Wir nützen Computer und Atomkraft für unseren Wohlstand. Wir gründen eine Familie und fahren am Wochenende aufs Land?

Vorbei. No Progress. Die moralischen Episoden der sonst so kühlen und sachlichen Kraftwerkkarriere versetzen mir einen Stich ins Herz. Sie stellt sich immer noch zur Schau für das Konsumprodukt. Und auch wenn der atomare Super-GAU bislang ausgeblieben ist, hört sich Stop Radioaktivität, weil's um unsre Zukunft geht an wie ein verzweifelter Hilferuf eines UFOs aus einer längst vergangenen Zeit. Irgendwie fast herzig weltfremd.

Das Urban Art Forms Festival auf fm4.ORF.at

Eine ganze urbane Generation (meine Generation) lebt vom Wohlstand ihrer Elterngeneration. Zehrt von Bausparverträgen, in Bildung investierten Ersparnissen und lebt erst in der Studenten-, dann in der Fertigstudierten-, dann in der Jobsuchenden-, dann in der Jobhabenden-aber-niemals-davon-leben-Könnenden-WG in Ruinen. Halb retroschick und halb verzweifelt haben wir uns Geschirr und Möbel, Gewand und Tand aus drei Jahrzehnten von Erbtanten, Wohnungsauflösungen und Flohmärkten zusammengesammelt.

Der Traum der Ikea-Family mit Kindern, eigenem Auto und Haus im Grünen ist so weit entfernt, dass wir ihn gar nicht mehr wollen. Reaktionäres Spießerzeug, pah. Wir sind jung, frei, bestens vernetzt und arm. Und genießen die Freiheit am Eristoff Tracks Urban Art Forms presented by Electronic Beats, wie uns der Ort, an dem wir im Schlamm campieren, in jeder Bühnenansage vorgestellt wird.

Und das ist vielleicht gar nicht einmal so schlecht.

vier Männer vor einem Hintergrund aus technischen Figuren und Linien

Christoph Kobza / radio fm4

Danke, Christoph Kobza, für die Kraftwerkfotos!

Denn die Welt, von der uns Kraftwerk erzählen, ist eine aufregende. Die Geschichten, die sie uns erzählen, sind atemberaubend schön. Die Inszenierung der Geschichten ist makellos und technisch perfekt. Die Sprache könnte nicht zeitgemäßer sein.

Aber es sind nicht unsere Geschichten, die sie erzählen. Denn ich glaube an keine Propheten. Ich glaube keine Gründermythen und glaube keiner Predigt. Wir haben unsere eigenen Werkzeuge. Und wenn Kraftwerk ganz im Sinn des Konstruktivisus tabula rasa gemacht haben, dann liegt es an uns, uns neue Codes und neue Symbole anzueignen:

Als Kasimir Malewitsch sein Schwarzes Quadrat auf weißem Grund gemalt hat, hat er die bis dahin gültige Kunstsprache verworfen, die Codes von Malerei und kultureller Identität hinter sich zurückgelassen. Der Mensch als Übermensch im Sinn des Suprematismus wird eins mit seinen Maschinen und siegt über die Natur.

Eine Zäsur, die Kraftwerk für uns geschaffen haben. Und für die wir nicht dankbar genug sein können. Aus Kraftwerk wurde Techno, aus der Computerliebe wurde der heutige Electro, aus Autobahn wurde Elektropop, aus dem Transeuropaexpress wurde HipHop, aus den Drumcomputern wurde unter anderem Baile Funk, Miami Bass und der ganze B-More Wahnsinn. Kraftwerk haben uns Formen und Ausdruck, Formeln und Sprache gegeben. Daraus sammeln wir uns - halb retroschick und halb verzweifelt - unseren neuen Tand und unsere neue Musik. Und daraus erzählen wir unsere eigene Geschichte.

Unbedingt auschecken:
Natalie Brunner über Kraftwerk und Baile Funk in Rio.
Trishes über das reiche Erbe von Kraftwerk.

Und die heißt manchmal tatsächlich Urban Art Forms, powered und presented und so. Ich erzähl sie euch morgen.

Nur so als Teaser: es wird - quasi als Nachtrag des ersten Tags - um die Ästhetik des Untergangs gehen (Digitalism) und um die Streitfrage zwischen white und black in der Musik (Turntablerocker). Außerdem haben wir heute Abend noch Sven Väth und Deichkind auf der Mainstage - und da wären noch andere urbane Phänomene, die auf die Namen Psytrance und Drum'n'Bass hören.

tanzende Partymenschen im grünen Scheinwerferlicht

Arthur Einöder / radio fm4

Urban Art Forms Videoblog: Freitag 29.05.09

Impression vom frühen Abend

Credits:
Matthias Wiedmann
Kamera, Schnitt, Logoanimation

Trotz Regen und eisiger Kälte, war das Festival voll von Liebhabern elektronischer Musik, partysüchtigen Ravern und einer eingeschworenen Kraftwerk-Fangemeinde, die alle zusammen das Festivalgelände zu einer riesigen Party gemacht haben.