Erstellt am: 29. 5. 2009 - 16:20 Uhr
Journal '09: 29.5.
Der Mai ist nicht nur deshalb ein Stress-Monat, weil Ausbildungs-Instituitionen und Veranstalter dort all ihr heftiges Zeug reinpacken, ehe es in einen loser gestrickten Sommer geht, sondern - für große Teile des Planeten - auch deshalb, weil sich hier die finalen Entscheidungen ballen, was den Fußball-Sport betrifft. Am Wochenende stehen noch das englische und deutsche Cupfinal an, in Spanien, Italien, auch in Österreich die letzte Meisterschaftsrunde und dann geht es ab in eine Erschöpfungs-Pause; wie es sich nach einem Höhepunkt gehört.
Der war für Mittwoch avisiert und hielt den Erwartungen zumindest teilweise stand: Das Champions League-Finale zwischen Barcelona und Manchester United brachte die besten Teams des Planeten in einen Ring.

reuters
Und dort stellte sich dann etwa Lionel Messi sekundenlang quer in die Luft, um in einer tableauhaften Inszenierung eines Wachtraums einem zugespielten Objekt eine unerwartete Richtungsänderung zu verleihen, die zum puren Entzücken Anlass gab.
Ode an die Freude
Ich betrachte Fußball auf seiner höchsten Ebene ja nicht mehr als Athletik oder Sport, auch nicht mehr als bloßes Handwerk, sondern als Kunst, als pure Kunst, als vielleicht die letzte Kunst.
Als möglicherweise komplexeste Form der Aktionskunst - weil es ja nötig ist die Bewegungsabläufe von zumindest 11 Menschen so zu koordinieren, dass dem Gemeinsamen mehr Bedeutung geschenkt wird als dem Individuellen, ohne sich dabei auf ein Drehbuch oder sonst in der Kunst übliche strikte Anweisungen zu stützen, sondern unter Zuhilfenahme der Improvisation.
Als möglicherweise letzte Zuflucht der optischen Auflösung unmittelbarer Emotion - die sonstwo durch die Ausbeutung des Reality-TV reine Pose geworden ist.
Als möglicherweise einziges noch authentisches Doku-Drama, dessen Unmittelbarkeit nicht schon durch davor besprochene Gimmicks beeinträchtigt wurde.
Das alles findet - auf unteren Levels - natürlich auch auf Löwingerbühne-Niveau, auf Starmania-Niveau, auf Seitenblicke-Niveau oder auf Burgtheater-Niveau statt; also verkrampft, lächerlich, charakterlich schwindsüchtig oder selbstüberschätzend.
Emotionale Verzückung
In den wenigen optimal verlaufenden Momenten des besten Ensembles aber ist die dort stattfindende Weltklasse mit den allerbesten Film/Serien/Musik-Momenten vergleichbar, die für eine emotional identische Verzückung sorgen können.
Heuer war ein gutes Halbjahr, ja, die ganze Saison 08/09 hatte besonderes Flair. In der englischen Liga überboten die 4 Spitzenteams einander mit einem geradezu lustvollen Vergnügen fast wöchentlich aufs Neue, was Hochtempo-Artistik, freundentränigen Drive und kombinatorische Verve betraf. In der spanischen Liga zog Guardiolas an Ahnvater Cruyff orientierte Barca-Mannschaft das künstlerisch wertvollste Modell der Geschichte, ein angriffiges 4-3-3 aus dem Fundus und überrollte mit einem grandiosen Remix sowohl das mit offenem Mund staunende Publikum als auch die beeindruckte (und zunehmend auch beeinflusste) Konkurrenz.
Ja, und selbst der gern unbewegliche teutonische Balltreter-Nachbar bot die beste Season seit ewigen Zeiten. Gleich etwa zehn oft gleichwertige Mannschaften lösten einander nicht nur an der Tabellenspitze, sondern auch als Themenführer, was emphatisches Vorwärtsstreben, kreativen Kombinationsgeist und freudvolles Auskosten der Geschmackspalette betrifft, ab. Mehr noch, man hatte das Gefühl, dass das Auftauchen von unerhört frisch ausgespielten Live-Sets der jungen Bands wie Hoffenheim, Leverkusen, Hertha, Stuttgart, Dortmund oder Wolfsburg sie noch erweiterte, bislang ungeahnte Klänge dazuzauberte. Was die alten Rösser, die Bayern, Schalke, Werder oder den HSV, auch noch beflügelte.
Rausch und Glück
Es war also groß und großartig, was die Großen uns vorspielten, diese Saison - daran können auch die Minderleister der hiesigen Liga, die sich zu den erwähnten Künstlern verhalten wie Herbert Kickl zu Obama, nichts ändern.
Und es war gut am Mittwoch, beim Höhepunkt mit Ansage keine Enttäuschung, sondern eine Bekräftigung zu erleben: einige magische Momente, die den Rausch, der einen packt, wenn das Leben zur Kunst wird, in reines Glück übersetzen.
Es waren nur einige wenige Sekunden: ein paar empathische Zuspiele der Europameister Xavi und Iniesta, ein paar Tanzschritte von Eto'o und Henry, die Art, wie Puyol seine Botticelli-Locken schüttelt, die fürsorgliche Umsicht, mit der Pique Bälle aus der Luft pflückt, der Mut der Löwin, mit dem Victor Valdes seinen Bereich schützte.
Und vor allem die eine Szene, in der Lionel Messi, der beste Fußballspieler der Welt, entgegen jeder physikalischen Logik, entgegen jeder Lehrbuch-Weisheit, eben nicht den Schwerpunkt des Körpers hinter den zu befördernden Ball brachte, sondern sich in der Luft querstellte, mehrheitlich unter dem Ball befand und den so, willentlich und bewusst, in einer völlig unerwarteten Richtungsänderung dorthin brachte, wo ihm niemand mehr etwas anhaben konnte.
Da hat niemand mit hermannmaierischer Wucht oder usainboltigem Krafteinsatz Übermenschliches vollbracht, da hat sich niemand halb zu Tode gequält, um einem Gegner eine reinzudreschen, da waren keine 1.000 Übungsstunden zu spüren - da hatte ein veritabler Künstler eine spontane Idee, die er noch dazu sofort umzusetzen verstand, einen Geistesblitz, dem der Körper willig folgte.
Life imitating art.
Dass es die Kleinen sind, die Xavis, Iniestas, Puyols und Messis, die die Fäden in der Hand haben, dass es das letztlich selbe Spiel ist, mit dem Spanien vor etwa einem Jahr verdient Europameister wurde, das ist doppelt wertvoll.
Weil es einen deutlichen Fingerzeig gibt, wo der Sport (und ja, ein bisschen Sport ist Fußball in all seiner Kunstfertigkeit auch) sich hinbewegen sollte: in die Weiterentwicklung der Idee, die Förderung des Verstands, des Genieblitzes, der geistigen Beweglichkeit - weg von der Muskelaufbau- und Ausdauer-Scheiße, die ohne Drogen-Manipulation und Gen-Doping gar nicht mehr möglich ist, weg von der Befehlsempfänger-Leistung hin zur Eigenverantwortung, weg von vorgefertigten Mustern hin zur Selbsterfahrung, weg von militärischem Drill hin zur aus dem Individuum entstammenden Kunst.
Die muss sich jeder eh auch genauso hart erarbeiten, die fliegt eh auch niemandem zu. Auch ein Messi hat einmal mit Ballstoppen und Sprints angefangen. Auch ein Messi kann gegenständlich malen, selbst wenn er jetzt nur noch abstrakte Geniestreiche fertigt.
So war an diesem Mittwoch die Kunst des kleinen Mannes ein unübersehbarer Markstein.