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Hosea Ratschiller

Unterwegs im Nowhere Train

19. 5. 2009 - 16:54

Nowhere Train

Kirchbichl - Hall in Tirol

In fremden Betten schlafen ist wunderbar. Leider kann ich es sehr schlecht. Der Zustand, dem ich mich vor wenigen Minuten erst entzogen habe, ist wohl am treffendsten beschrieben mit: Träumen, man kann nicht einschlafen. Darin wiederum bin ich unschlagbar. Weich und wach liegen, sich vorstellen, was sein könnte und Wünsche wünschen. Das, was wir hier gerade erleben, ist einer meiner meistgewünschten Wünsche. Umso weniger bin ich einverstanden mit der Tatsache, dass die Erfüllung mich nicht beruhigt. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Wünsche sich verwandeln können.


Mit zwölf hätte ich in diesem Wunsch nach einem Aufbrechen ins Nichts wahrscheinlich noch ein Robin Hood Kostüm angehabt, mit 17 wäre sicher mehr Sex dabei gewesen, mit 20 nur mehr Sex, mit 25 dann gar kein Sex mehr, sondern ein Zuhause, nach dem man sich sehnen kann. Frenk hat gestern gesagt: „Die meisten Sachen im Leben macht man nicht“. Wir machen gerade etwas, das ist kein Wunsch und in der Realität, in der diese Reise für mich stattfindet, gibt es einen ganzen Haufen Vermisste. Vor allem in Wien und Brüssel. Auch das hält wach.

Ich sitze in einer Stube in Kirchbichl. Keine Ahnung, wo das ist. Erzählen kann ich, dass es in der Nähe von Wörgl liegt. Dort hatten wir gestern nämlich 40 Minuten Aufenthalt und sind dann mit dem nächsten Zug nicht mehr weit gefahren. Die Wartezeit wurde auf dem Platz vor dem Wörgler Bahnhof mit erstmaligem Musizieren in durchchoreographiertem, öffentlichem Raum verbracht. Hier, wo die Exekutive im Gegensatz zum Hochgebirge größtenteils staatlich organisiert ist, hat sich die Entscheidung für den internen Dresscode „Anzug“ erstmals als ausgesprochen günstig erwiesen. Ohne Kamera und in zerrissenen Jeans wären wir wohl nach wenigen Minuten beamtshandelt worden. Diese Annahme beruht nicht nur auf Erfahrung und Verbitterung, sondern in allererster Linie auf der Beobachtung des Bahnhofsvorstandes, wie er eiligen Schrittes die Bahnhofshalle durchmisst und angesichts des sich ihm verdeutlichenden Bildes langsamer wird.

Musiker in Tiroler Landschaft

Jenseide

Das elektronische Bahnhofsportal öffnet sich, er reckt eine halbe Schuhlänge heraus, entscheidet sich dann aber, es darauf beruhen zu lassen, dass wir nicht innerhalb seines unmittelbaren Zuständigkeitsbereiches eine Ordnungswidrigkeit begehen, sondern in der Grauzone davor. Er bleibt dann drinnen stehen, die Türe geht mehrmals auf und zu und mit jedem Mal erhellen sich seine Gesichtszüge. Rundum werden Bürofenster hinaufgeschoben und Autofenster hinuntergekurbelt. Je nach Altersgruppe platziert sich das, was langsam ein Publikum wird, in mehreren Distanzzonen um die Musiker. Junge, Bettler und Menschen mit Migrationshintergrund kommen recht nahe. Je älter und einheimischer die Zuschauerinnen und Zuschauer, desto weiter weg beziehen sie ihre Beobachterpositionen und bemühen sich sichtlich, gleichzeitig die zauberhafte Musik zu genießen und so zu wirken, als wären sie sehr skeptisch.

Auf einmal gibt es eine Band. Ich glaube, Jakob hat angefangen zu bemerken, dass jemand zuschaut und den Rest darauf aufmerksam gemacht. Jetzt rollt es.

Kirchbichl - Hall in Tirol

Das wird die Fahrtstrecke sein, die wir heute zurücklegen werden. Ich schreibe die Geschichte allerdings in der Stube fertig, weil unsere hinreißenden Gastgeber gestern sehr schnell mit dem Schnaps aufgefahren sind. Der hat mir jede konzeptuelle Zähigkeit ausgetrieben und ich werde also meinem Schädel keinerlei Konzentrationsversuche im fahrenden Großraumabteil zumuten.
Wir wohnen bei den Hotters, die ihren Hof zur Frühstückspenison umgebaut haben und ihre Felder mittlerweile verpachten, weil sie selbst die Arbeit nicht mehr schaffen würden und die Kinder sie nicht wollten. Sollte jemand einmal bei Hotters vorbeischauen: Der Schnaps trinkt sich sehr leicht, ist aber wirklich mit Alkohol und ein „Nein Danke“ wird nach dem Zweiten durchaus akzeptiert. Die Zimmer haben uns die Leute vom „Bauernhaus“ vermittelt.

nowhere train

nowhere train myspace

Der „Bauer“ (Teil des Konzeptes der Kreativwerkstatt „Bauernhaus“ ist, dass auch im Geschäftsalltag keine Namen genannt werden. Neben dem „Bauern“ gibt es noch einen „Knecht“ und eine „Magd“) hat den Hof von den Eltern übernommen und aufwendig vom landwirtschaftlichen zum kreativwirtschaftlichen Arbeits- und Lebensplatz umgebaut. Die Felder sind an Menschen verpachtet, die etwas damit anfangen können. Hauptabnehmer der Ideen ist ein Hersteller von Weingläsern aus dem sogenannten Hochpreissegment. Die Heldinnengeschichte der Leute vom „Bauernhaus“ beginnt mit der Bitte eines Freundes. Er ist Snowboardhersteller und braucht dringend Ideen für seinen Stand auf einer entscheidenden Sportartikelmesse. Der „Bauer“, damals noch Maschinenbauer, meint, so etwas könne er nicht. Er würde aber gerne ein paar Scheißhäuser vorbeibringen. Die Antwort aus München: „Ja! Genau so etwas brauchen wir“. In Folge gewinnt ein Maschinenbauer aus Kirchbichl den bayerischen Jungdesignerpreis für einen Messestand aus 14 Pissoirs, in denen je ein Snowboard enthalten ist.

Tafel

Jenseide

Diesmal waren viele Leute da. Als wir vom Traktoranhänger absteigen, mit dem man uns vom Bahnhof zum „Bauernhaus“ transportiert hat, irritiert uns das nach der intimen, probenhaften Situation am Vorabend bei „Longo Mai“ ein wenig. Je näher das Konzert rückt, desto interessierter blicken wir uns aber um.

Dann wird gespielt:

  • Just Because (Love&Fist)
  • Nowhere Train (Ian Fisher)
  • Big Time (Frenk Lebel)
  • Near (A Life, A Song, A Cigarette)
  • Annabelle (Gillian Welch)
  • I take you in (Frenk Lebel)
  • Ship Song (Nick Cave)
  • Marie (A Life, A Song, A Cigarette)
  • Folsom Prison Blues (Johnny Cash)
  • No Stories (Love&Fist)

Zugaben

  • Nine to Five (Ian Fisher)
  • Love Hurts (Boudleaux und Felice Bryant)
  • Hit the road, Jack (Ray Charles)
  • Everybody is into something (Frenk Lebel)
  • Behind the times (Love&Fist)
  • Big Time (Frenk Lebel)

Diesmal gibt es eine richtige Bühne. Es ist zwar keine Rampe, aber ein definierter Platz im Raum, der sogar bevisualt wird. Das Publikum ist zahlreich, aber äußerst inhomogen. Der Geräuschpegel ist entsprechend hoch. Man kann sich auf keine gemeinsame Stimmung einigen. Nicht nur, aber auch, weil eine Gruppe von Männern um die 50 durchgehend vor sich hinmurmelt, wie schlecht das sei, was man da geboten bekäme. Ich setze mich vor sie, weil ich hoffe, das würde sie beruhigen. Warum er mir das Bier über Kopf und Hose geschüttet hat, weiß ich nicht. Auf meine freundliche Nachfrage hin meint der gedrungene Herr mit der Goldkette nur, „Damit was wird aus dir.“ Ich lächle zärtlich zurück, was mir heute morgen die späte Genugtuung verschafft, dass ich mir vorstellen darf, wie mein spendabler Freund am Frühstückstisch ins Leere blickt und versucht, seinen homoerotischen Traum einzuordnen. Der Rest des Publikums ist sehr freundlich und Wörgl bewahrheitet sich.

Es gibt jetzt eine Band. Sie besteht aus vier Rampensäuen und einem Deisi. Der ruht das ganze Konzert lang virtuos in sich und ist lange der einzige, der nicht aufsteht und auf die Leute zugeht. Als Frenk das Publikum mit liebevoll provokanten Ansagen fokussiert und Jakob es mit einer kraftvollen Version seines Songs „No Stories“ fasziniert hat, gibt es kein Halten mehr. Hätte mir vor zwei Tagen jemand vorausgesagt, dass ich einmal in die Verlegenheit geraten werde, das Wort „Applausstürme“ zu verwenden, wäre ich wohl beleidigt gewesen. Aber was der Band da im letzten Viertel des Konzertes an erstauntem Beifall entgegengebracht wurde, ist unaussprechlich. Spätestens jetzt ist klar: Der Abend wird kein gesundes Ende nehmen. Die hendrixesken Soundgewitter, die ein entfesselter Deisi dann am Ende des Konzerts seinem verstärkten Banjo entlockt, sind der Auftakt für einen lupenreinen Exzess. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem es körperlich werden muss. Der Sprung in die zum Teich umfunktionierte Jauchegrube bei ca. 15 Grad Außentemperatur fühlt sich schwer nach Ersatzhandlung an. Ganz im Gegensatz zu der Reise durch die Geschichte des Songs, die unter der Leitung der Lokomotiven Stanzel und Ian bis in die frühen Morgenstunden unternommen wird.

Sei dabei
Heute abend spielt der Nowhere Train im Kulturlabor Stromboli in Hall in Tirol!

Gleich geht der Zug nach Hall, wo die Band heute Abend ab 20 Uhr im Kulturlabor „Stromboli“ ihren ersten Auftritt mit Verstärkern und Mikrophonen hat. Ich weiß nichts über diesen Ort. Was ich bisher gehört habe, ist, dass die Leute dort sehr nett sein sollen. Bitte kommt doch gerne vorbei.

Wir müssen los. Morgen mehr.