Erstellt am: 19. 5. 2009 - 17:10 Uhr
All Tomorrows Parties Festival
Eine Zeile, die nicht ausstirbt: "What costume shall the poor girl wear to all tomorrow's parties?" - vor allem nicht, seitdem das gleichnamige Festival als ein Ort der sinnführenden Fan-Assoziationen und Fan-Sozialisationen etabliert hat. Das britische ATP-Festival will Universen erschließen. Ein musikalischer Felsen (meistens: eine Band) stellt an drei Tagen ihr Lieblingslineup zusammen. Die Liste der kuratierenden KünstlerInnen ist beeindruckend und macht neugierig: Nach dem Start-Up mit Mogwai im Jahre 2000, kamen Tortoise, Shellac, Slint, Matt Groening, Vincent Gallo oder schlicht auch die die ATP-Fans selber, das Pitchfork-Team oder eben vergangenes Wochenende: Die Breeders.
Die Breeders stellen sich vor:
Kelley Deal: "Steve Albini once said that I am the only person he knows that has had a Top Secret Clearance, a multi-platinum record, a book published and a felony arrest (no conviction)."
Mando Lopez: "I live about 2190,18miles (I looked it up) away from Kim´s house in a city called East Los Angeles. It was home to the Gabrielino Indians for more than two thousand years. Think: Mexico but in Los Angeles..."
Kim Deal: "I have an identical twin sister named Kelley and a brother named Kevin whom I have fought with all my life. I love them both. I live with my mother and father in southwest Ohio. My mom, Ann, is losing her mind from Alzheimer´s."
Jose Medeles: "I live in Portland, Oregon. It´s approximately 2355 miles from Kim and Kelley´s. The average rainfall is about 35 inces per year and according to Business Week it´s the most depressing city in America... cool."

Breeders
Für alle, für die Festivals im wahrsten Sinne des Wortes nur Dreck bedeuten, die waren noch nicht hier: Im Butlins Holidaycenter in Minehead. Ein Traum von einer Infrastruktur, oder hat schon jemand in den Umbaupausen ein Schnitzel in die Pfanne geworfen, sich ein kühles Etwas aus dem Kühlschrank geholt, die Füße auf den Tisch gelegt, kurz im ATP-Fernsehprogramm gezappt und sich weiter aufgemacht in den Dirty Dancing-Pavillon und sich zu den Klängen von den Throwing Muses den Kopf darüber zerbrochen, wo Tanya Donelly geblieben ist?

ondrusova
Selbst den leidigen Bühnen-Überschneidungen kann man hier einigermaßen entgehen, wenn man auf Dreiviertel-Dreiviertel-Konzertzeiten aus ist. Und das Lineup eben: Tja, keine bessere Gelegenheit, um sich einem Banduniversum zu nähern, als das ATP Festival. Das was in der "Kunden, die auch diesen Artikel gekauft haben"-Rubrik erscheint, geigt hier live auf. Einiges bleibt Bildunterschrift im Programm zwecks der vielen Ablenkungsmanöver am Gelände: Für manche bleibt's bei der Küchenparty, manche gehen ins Schwimmbad, andere versuchen sich im Gokart-Fahren, letztendlich bleibt aber auch hier die Müdigkeit der Diktator des Nachtlebens. Wenn man den Twitter-Meldungen des ersten Tages glauben schenken mag, stand für Einige die Suche nach einem Guardian auf der obersten Prioritätenliste. ("2000+ middleclassindiefans and not a guardian to be had anywhere on site or at nearby tescos?"), wenn man den Twitter-Meldungen des zweiten Tages glauben schenken mag, waren die Seemöwen und Entenfamilien die Vormittags-Sehenswürdigkeit schlechthin. Kristin Hersh: "guess what? my 'chalet' comes with a duck! i totally have a duck now!“ about 36 hours later: „duck wouldn't get in my car...damn...i thought we were in love!")

Ondrusova
ATP-Festival heißt Urlaub. Wer stets über (alle) UK-Preise geschimpft hat, hat das letzte Jahr den Kurswechsel außer Acht gelassen. Auch für einige der Bands, wie die Blood Red Shoes, die jahrelang als Gäste hergekommen sind und heuer auf Einladung der Deal-Schwestern ihr ATP-Debüt gegeben haben, ist ATP Pflicht.
Andere wie den selbsternannten "Legacy-Act" Shellac (of North America) zieht es nun gezählte 74mal (???) zu einem ATP-Event. Das beste daran natürlich die Tatsache, dass die Breeders Shellac als Hausband engagiert haben und sie nun ähnlich wie bei ihrem eigenen ATP-Festival 2002 mehrmals auftreten, natürlich zur Primetime. "You should be lucky" heißt es im Programm und mir verblendetem Zickzack-Gitarren-Fan kommt das nur gelegen, auch wenn das heißt, Teenage Fanclub dafür auszulassen.

ond
Sorry Norman, aber bei The End Of Radio muss Glasgow-Pop eben dran glauben ("is this really broadcasting if there is no one ever recieve?"). Die obligatorische Publikums Q&A-Aktion von Shellac wird auf ein paar Witze ausgedehnt, weil das Effektgerät den Kabelgeist aufgibt und so bleibt Zeit klarzustellen, dass David Yaw Bob Weston III seinen besten Witz geklaut hat. Nur so viel: Den mitm Leichenbeschauer und Marilyn Monroe kennt man schon und der über Orgasmus und Maserati ist einfach nicht lustig.
Die Frage aller Fragen natürlich hier am Festival: Welche Band spielt zeitgleich zum Kuratorenact: Ein Blick in die Programmkartei des Samstags ahnt Böses: Tricky. Als ich dem Tricky-Merchmann versichere, "Knowle West Boy" zu besitzen und mein Entscheidungs-Dilemma erkläre, schneidersitzt Tricky neben seiner T-Shirt-Kollektion und schaut grimmig in die Menge. Seinen Fanzuspruch holt er sich auf dem Geländecatwalk – vor und nach der Show selbstverständlich.

Ondrusova
Der Treue wegen und weil nach "Cannonball", "Iris" und "Happiness Is A Warm Gun" das höchste der Breeders-Gefühle erreicht ist, heißt es ab in den ersten Stock, wo sich Tricky gerade an "Lovecats" abschwitzt , Muskeln zur Schau stellt und schamanenhaft die Geister des Trip Hop austreibt. Karmacoma und so.
Zu den Überraschungen des ersten Tages zählen Bon Iver, den ich den ganzen Abend absichtlich Bon Ajvar nenne, weil das Tschechenradio sich um Aussprache auch nichts schert und weil Paprika ebenfalls was Gutes ist, auch wenns nichts ist, das sich die Franzosen auf die Fahne heften könnten.
Mit zwei Schlagzeugern ist die Gefühlslage gleich zu Beginn in Balance gebracht, nach "Skinny Love" noch ein Grand Finale-Highlight mit einem partizipativen "The Wolves (Act I And II)" und wieder ab in den ersten Stock, um zu überprüfen, wer dieser Yann Tiersen, den man vage aus dem Filmabspann kennt, denn nun eigentlich ist. Auch ein "winner": Dem Baden im Sound und Licht steht nichts mehr im Weg, auch wenn die singenden Sägen-Passagen zeitweise zu hippiesk klingen. (Nein, ich möchte meine Kleider nicht im Wind flattern sehen.)

Ond
Wer beim Namen "Breeders" an ein monothematisches "Collegerock" "90iesrock" oder gar "Grunge" oder "Postgrunge"-Lineup denkt, wird hier genauso überrascht werden, wie CSS selbst, als sie den Anruf und die Festivaleinladung bekommen haben. Lovefoxxx jedenfalls fühlt sich geehrt, dass die Breeders ihre Band überhaupt kennen. Die Bühne und die ersten Reihen werden mit Luftballons ausgestattet, passend zum mit Schulterpolstern ausgestatteten Ganzkörperkondom wird eine rote Perücke aufgesetzt und das Tanzaerobic darf losgehen. Die obligatorische "warum haben die drei Gitarren auf der Bühne wenn man nur eine hört?" - Diskussion über die Beschäftigungstherapien der sechs Bandmitglieder währt nicht lange, wenn die Antwort zwischen "Warum nicht?" und "Because yes they can!" liegt.

Ond
Die Times New Vikings aus Ohio präsentieren als Openerband des letzten Festivaltages zwei Sorten Lieder: Solche, in denen es um Drogen geht, und solche, in denen es nicht um Drogen geht. Kurze und bündige Performance, eigentlich genau das Set, das ich mir von The Soft Pack erwartet habe. Zur Überprüfung ist es nicht wirklich gekommen, das berüchtigte ATP-Popquiz musste auch unter die Wissens-Lupe genommen werden. Die Intro´s Rounds hätte man ja eventuell noch schaffen können, bei den Fragen nach Melt Banana-Songtiteln ziehe ich meinen Hut vor dem Glück des Gewinnerteams.
Ohne Angst vor dem Lautstärkepegel konnte man Sonntag nachmittag in die hinteren Sitzreihen der Center Stage Platz nehmen und Kimya Dawsons Performance erwarten. Sie war schließlich die Einzige am Festival, die sich über die Shopping-Mall-Venue lustig gemacht hat und nur mit einem Instrument bewaffnet die Bühne betreten hat und sich – nicht unklug zwecks der Ablenkung – drei Fans aus den vorderen Reihen geschnappt hat.

Ond
Diese haben sie auf der Suche nach einem Gesangschor für ihr Konzert mit den Worten "We´re like the Supremes" überzeugt: Kimya Dawson wollte zusätzlich, dass die drei Fans ihre Songs tänzerisch interpretieren. Man kann sich anhand der Schüchternheit des Trios nur vorstellen, wie das erste Mal Rampenlicht für die Anti-Folk-Sängerin gewesen sein muss, und welch Stütze ein Hocker und eine Gitarre sein können. Eine Welttour hätte das Trio nicht durchgestanden: Die eine war in ihre Seifenblasenmaschine vertieft, die andere hat zwischendurch Werbung für das Konzert ihrer eigenen Band gemacht, der dritte Fan – nennen wir ihn "McLovin" - hatte wenigstens den Versuch eines Tanzes hingelegt hat, beginnend mit Gewinnerpose á la Arme in die Höhe, ein wenig "Saturday Night Fever", ein wenig "Superbad" eben: Die Liebeserklärung an Kimya Dawson inklusive, es hat nur mehr der "Now I can die!"-Statement gefehlt. Aber angesichts von Kimya Dawson´s letztem "Gig" vor ihrem Europa-Ausflug, wo sie zwei Tage am Sterbebett ihres Freundes gespielt hat, wäre das eventuell unpassend gewesen.

Ondrusova
Freude hat viele Gesichter und viele Stehsätze: "Now I Can Die!", meinte der sichtlich aus dem Konzept gebrachte, dauerkichernde, sein Glück nicht glauben wollende Deerhunter-Sänger, der während seines Livesets gemeinsam mit den Deal-Schwestern einen Song performte.
Spätestens dann fiel mir wieder ein: Wie viele Rock-Lexika-Bands muss man an einem Wochenende vereinen, damit sich eine davon an Velvet Underground´s "All Tomorrow´s Parties" wagt? Ich brauch' zwar keine Kirsche auf der To Go-Sahnetorte, aber wäre das nicht der alles vereinende Moment dieser Veranstaltung an einem verregneten Wochenende, wo likeminded-people um die Gunst der Einzigartigkeit buhlen?

Deerhunter
Vielleicht gibt’s ja eine Klausel dagegen, vielleicht hat es eine Band sogar gewagt, und ich habe es nur versäumt. Vielleicht war es der erste Song im Foals-Set, weil der letzte kann es nicht gewesen sein, zum wütenden Gang Of Four Set hätte das nicht so gut gepasst, die mussten sich schliesslich auf ihre eigenen Fußstapfen konzentrieren, vielleicht haben es die Fuck Buttons in ihrem DJ-Set rotieren lassen. Das wär doch was.
Kaum vorbei, bin ich schon wieder im nächsten Erlebniskapitel. Meine Festivalsommerbatterie ist nämlich hiermit aufgetankt.