Erstellt am: 17. 5. 2009 - 06:00 Uhr
Der Song zum Sonntag: Art Brut
Nach den Yeah Yeah Yeahs, deren Bezweiflung mir einen kleinen Rockisten Ruf eingebracht hat, nun noch eine, völlig anders gelagerte, weil britisch distinguierte, Art/Style Anzugträger-Band.
artbrut.org.uk
Eddie Argos, der elegant-zynische "British Gentleman abroad", hat das Zentrum seines Lebens und des Schaffens seiner Band Art Brut nach Los Angeles verlegt. Los Angeles, die vermeintlich archetypische "Car City", die Metropole, die unter einer riesigen sechs-spurigen Stadtautobahn versteckt ist und in der nur die Ärmsten und die Exzentrischsten noch Bus oder Zug nehmen, hatte rund um die letzte Jahrhundertwende das bestausgebaute öffentliche Verkehrsnetz der Welt. Übrig davon ist scheinbar nur mehr Eddie Argos, der auf Nahverkehrszüge schwört und das Lesen in den Commuter Trains den Endlospendlerreisen mit dem Auto vorzieht.
Mit überrascht hochgezogener Augenbraue musste Eddie Argos feststellen, dass sein Lieblingssong "The Passenger" nicht etwa davon handelt, wie Iggy Pop auf die Straßenbahn wartet, sondern vielmehr dessen Stadtfahrten auf dem Rücksitz einer Limousine glorifiziert. Was lag also näher für Art Brut, als sich einen eigenen Passenger Mythos zu bauen?
artbrut.org.uk
The Passenger
Der Song Zum Sonntag ist eine Kooperation zwischen FM4 und der "Presse am Sonntag" und erscheint hier wie dort, wo sich der geschätzte Wissenschafts- und Popjournalist Thomas Kramar der Kolumne annimmt.
Transportmittel waren stets ein Thema des Pop. Im weißen Pop und Rock galt da vor allem der Individualverkehr als Verheißung der Freiheit und der Emanzipation vor der Enge und dem Reglement des Vaters, der einem nicht das Auto borgt, um mit seinen Kumpels herumzucruisen. Das Auto und das Motorrad dienten als Vehikel für Träume und Metaphern für das Ausreißen und Hinter sich lassen von Daddys Table und Mom's TV.
In der schwarzen Musik, in Soul, Blues und frühem R'n'B stand der Zug hoch im Kurs: In sehr früher Zeit nach den Sezessionskriegen war der Zug, vor allem der Zug nach Norden, der "Northbound Train", eine Möglichkeit des Ausstiegs aus der Sklaverei oder der nicht viel besseren Situation im Süden kurz nach dem Krieg. Der Zug nahm den Weg nach Norden in Städte wie Chicago und St. Louis, wo es Arbeit und eine starke städtische schwarze Community gab. Ein Held des Blues der Depressionszeit war der Hobo, eine Art freiheitsliebender, gesetzloser Landstreichertypus, der keine Heimat und keine Familie kennt, keine Verpflichtungen, denen man sich nicht mit einem schnellen Aufspringen auf einen fahrenden Güterzug entziehen könnte.
Art Bruts Eddie Argos ist ein Passagier, aber es ist nicht die Flucht in die Freiheit, die er verherrlicht, sondern die Existenz als kleiner, Bücher lesender, nicht zu hektischer Pendler, der auch gerne in Kauf nimmt, dass er nicht als erster am Ziel ist. Dass diese biedere britische Message - durchaus in der britischen Nostalgietradition von Ray Davies bis Morrissey und Andy Partridge stehend - in eine pumpende, tonlos rezitative Lärmorgie a la The Fall gekleidet ist, kann man der hinterlistigen Intellektuellen-Band Art Brut als kleinen anarchisch-künstlerische Mehrwert hoch anrechnen.