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Mari Lang

Moderiert, beobachtet und probiert aus – neue Sportarten, Bücher und das Leben in der Ferne. Ist Ungarn-Fetischistin.

15. 5. 2009 - 17:47

"Ein glatzköpfiger Zensor sitzt in meinem Kopf"

Zwischen Einparteiensystem, Gulasch und Selbstzensur hat sich im Ungarn der 80er Jahre eine kleine alternative Rockszene gebildet. Ihre Protagonisten sind heute Ikonen und haben Spuren in der Musiklandschaft hinterlassen.

1989-2009
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Heute fällt Jenö Menyhart nicht mehr auf. In seinem verwaschenen Shirt und dem schütteren Haar sieht der schlaksige Mittfünfziger aus wie viele, die in den verrauchten Cafés in Budapest ihren Kávé trinken. Vor 20 Jahren war Menyhart aber eine schillernde Persönlichkeit in der ungarischen Underground Szene. Mit schmaler Krawatte und dandyhaftem Aufzug hat er gegen das politische System angesungen. Zuerst in der Band "URH" (das doppeldeutige Kürzel steht für Ultrakurzwelle und die Polizei, die diese verwendete), ab 1981 dann bei "Európa Kiadó“, die Musik im Stil der Sex Pistols und The Clash spielten, mit ungarischen Texten und Themen.

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Europa Kiado in den 80er Jahren

Die 80er Jahre waren in Ungarn eine Zeit des Aufbruchs und des Experimentierens. Zahlreiche Bands wurden gegründet und im nächsten Moment wieder aufgelöst. Junge Intellektuelle dürsteten nach Freiheit und Grenzenlosigkeit. Sie wollten auf der Bühne das aussprechen, was viele im Alltag nicht zu sagen wagten. Doch so einfach war es nicht. Die Bühnen mussten erst gefunden werden. Obwohl die kommunistische Führung in Ungarn im Vergleich zu den anderen Ostblockstaaten relativ liberal war – die Ungarn durften verreisen, die Geschäfte in den Städten waren voll und Filme sowie Musik aus dem Westen waren erhältlich – war nicht alles erlaubt. Rebellieren gegen die kommunistische Herrschaft schon gar nicht.

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"Eine alternative Rockband wie "Európa Kiadó" zu gründen, war sozusagen schon in sich ein politisches Statement“, sagt Jenö Menyhart. "Um irgendwo auftreten zu dürfen, brauchte man eine offizielle Genehmigung, und diese hatten wir klarerweise nicht“. Aber es gab Schlupflöcher im System. Freigeistige, Jugendzentrenartige Clubs an den Universitäten, die den Undergroundbands Auftrittsmöglichkeiten verschafften. Trotzdem kam es immer wieder vor, dass Konzerte aus fadenscheinigen Gründen abgesagt wurden. "Die Willkür zu der Zeit war sehr groß. Einmal wurde etwas toleriert, am nächsten Tag wieder nicht“, meint Anna Szemere, die in den 80ern in Budapest studiert hat. Als Fan und später im Rahmen ihrer Dissertation hat sie sich eingehend mit der Musik von damals beschäftigt. 1997 ist ihr Buch "Up from the Underground" erschienen, das einen guten Einblick in die inoffizielle ungarische Rockszene gibt. Eine Szene, die es nicht leicht hatte Gehör zu finden.

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Zwar gab es offiziell keine Zensur, doch jeder wusste, dass sie praktisch existierte – vor allem in den Köpfen der Masse. "Das Absurde war, dass sich die Menschen meist schon selbst zensurierten, bevor es überhaupt die Polizei tun konnte. Selbstzensur war wie eine Volkskrankheit“, sagt der Musikjournalist Tamás Szönyei und verweist auf den "Európa Kiadó" Song "Szabadits meg" (Befreie mich). Darin singt Jenö Menyhart von einem glatzköpfigen Zensor, der in seinem Kopf sitzt, und von 1000 Ohren, die jedes Wort hören, das er ausspricht. So offen über Zensur zu sprechen, erforderte damals eine Menge Mut. Denn es traf den Nagel auf den Kopf. Musiker wurden bespitzelt und Informanten ins Publikum, Bandcrews und teilweise auch in die Bands selbst eingepflanzt.

Seit dem Volksaufstand von 1956 war in Ungarn quasi jeder gesellschaftliche Bereich von Spitzeln durchwachsen. Der kommunistische Geheimdienst wollte alles wissen, ging aber nur in seltenen Fällen hart gegen Regimekritiker vor. Die Punkband "CPG" aus Südungarn, die in ihrem Song "All egy ifjú" (Steht ein Jugendlicher) das Hängen von Kommunisten fordert, wurde zu ein- bis zweijährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Doch das war eher die Ausnahme als die Regel. Die kommunistische Partei fand andere Wege alternativen Bands das Leben schwer zu machen. "Wir wurden komplett marginalisiert, sodass die meisten Leute damals gar keine Ahnung hatten wer oder was 'Európa Kiadó' war“, erzählt Jenö Menyhart.

Die staatlich-monopolisierte Plattenfirma wollte die neue Musik nicht veröffentlichen, und im Radio oder Fernsehen wurde sie ebenfalls nicht gespielt. So war es Gang und Gäbe, dass Jugendliche bei Konzerten mit unprofessionellen Aufnahmegeräten mitschnitten und die krachenden Kassetten unter Freunden verteilten. Viele Lieder von "Európa Kiadó" und Bands wie "Kontroll Csoport" und "Bizottság" erschienen legal erst nach der Wende in Form von Archivmaterial.

Kontroll Csoport

Kontroll Csoport

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Die Rebellen der 80er Jahren wurden zu Kultfiguren und fanden ihren Weg in den Mainstream, spielten plötzlich Konzerte vor mehreren Tausend Menschen. Viele der Bands haben sich nach 1989 jedoch aufgelöst. Der Motor ihrer Lieder, die Kritik am kommunistischen System und der Wunsch nach mehr Freiheit, fielen nach dem Regimewechsel weg. "Aber auch die neue ökonomische Situation, die Marktwirtschaft, zwang viele Musiker richtige Jobs anzunehmen. Früher konnten sie von wenig leben, heute geht das nicht mehr so leicht“, meint die Autorin Anna Szemere.

Ideologen wie Jenö Menyhart haben mit dem Musikmachen aber nie ganz aufgehört. Immer wieder kommen die Mitglieder von "Európa Kiadó" zusammen und spielen Konzerte, wie zuletzt im Herbst 2008 in Budapest. "Die Rockbands von damals sind bis heute wichtig", meint der ehemalige Fan Szemere. "Für viele Musiker der jüngeren Generation sind sie große Vorbilder, weil sie mutig waren und sehr kritisch." Aktuelle ungarische Bands wie "Kispál és a borz“, "PUF" oder "Sziámi" nehmen immer wieder Bezug auf die Rockbands der 80er Jahre und lassen somit den Geist des ungarischen Undergrounds aufleben.

"Es war eine gute Zeit, und ich bin froh dabei gewesen zu sein. Wir haben vielleicht nicht viel bewirken können, aber waren für viele junge Menschen eine Stütze. Weil wir ehrlich waren und gesagt haben was wir uns denken“, meint Jenö Menyhart, der seine System- und Gesellschaftskritik jetzt bei Greenpeace auslebt.