Erstellt am: 11. 5. 2009 - 18:09 Uhr
Journal '09: 11.5.
Die erst heute nachgelesene wundervolle Geschichte von Albert Farkas hat mich heute durchaus beschäftigt.
Nicht so sehr, um mir auch zehn Eigenschaften/Handlungen zu überlegen, die ich von Mama/Papa übernommen habe - das wär' eine Fleißaufgabe. Nein, mir ist gestern, anlässlich von Muttertag und Familien-Mittagessen mittendrin aufgefallen, dass ich eine bestimmte Bewegung exakt wie mein Vater vollführe. Das ist nichts Besonderes, nichts Manisches, nichts Auffälliges, sondern purer Alltag. Und womöglich würde es einem beobachtenden Verhaltensforscher erst nach Tagen auffallen, dass er und ich einen ganz speziellen Bewegungs-Ablauf teilen. Mir fiel das auch erst nach Jahren, besser Jahrzehnten auf. Was vielleicht auch damit zu tun hat, dass man mit zunehmendem Alter seinen Eltern immer ähnlicher wird.
Ich denke, dass die Natur das schon so eingerichtet hat, damit Eltern sich geschmeichelt fühlen und sich um ihre Kinder sorgen - und womöglich auch um den Kindern zu versichern, dass es hier ein Bonding geben würde, das über gesellschaftliche Gepflogenheiten weit hinausgeht.
Erkenntnisse wie diese sollten mich also beruhigen und mir Sicherheit geben. Tun sie auch, keine Angst.
Die ererbte Geste
Aber, als alter Hinterfrager, kann ich nicht anders, als mich auch mit den Auswüchsen dieser Begebenheit zu konfrontieren: Gibt es quasi kein Entrinnen, was Erbgut, Sozialisation, erzieherisches Mimikry betrifft? Ist das Zurückgeworfenwerden auf die Muster der Ahnen unvermeidbar?
Und: Darf ich es als Ausrede dafür benutzen, um mich nicht bewegen zu müssen - quasi als self-fulfilling prophecy?
Natürlich ist die Suche nach Vertrautem ein zentraler Anker meines sozialen Lebens. Egal, ob es sich jetzt um elterliches Zusammengehörigkeitsgefühl, das Schaffen eines Beziehungs-Nests oder um Alltagsrituale wie den Kaffeestop oder den Abendzeitungs-Kauf handelt.
Ich frag mich nur gerade, ob das und die Geisel namens Bequemlichkeit auch stures Festhalten an individuell gesteuerten Haltungs-Traditionen rechtfertigt.
Das frag ich mich auch deshalb gerade jetzt, weil mich mein gestriges Eishockey-WM-Finale-Anschauen stutzig gemacht, und (gemeinsam mit Muttertag und Alberts Ansatz) grübeln hat lassen.
Stupendes WM-Finale
Es kam nämlich zum Höhepunkt der 74. Weltmeisterschaften, zum großen Finale zwischen Russland und Kanada, den beiden aktuell tatsächlich weltbesten Nationalmannschaften, den beiden klassischen Großmächten.
Russland hat 2:1 gewonnen, das Siegtor von Radulov war ein technisches Gustostückerl. Damit kommen Russland/USSR auf 25 WM-Titel, Kanada hält bei 24. Coach Slava Bykov ist übrigens ein Drittel der letzten überlebensgroßen russischen Angriffslinie (gemeinsam mit Chomutov und Kamenski).
MVP des Turniers wurde Team-Leader Ilya Kowalchuk, bester Verteidiger Shea Weber.
Hier die All-Star-Teams seit 1961.
Ich habe, ohne auch nur eine Sekunde aufs Spiel zu schauen, ohne aktuelles Können oder andere Umfeld-Bedingungen in Betracht zu ziehen, "mein" Team unterstützt. Im konkreten Fall sind das die Russen, die ich aufgrund ihrer ausgefeilten technischen Fähigkeiten, ihres aus jahrzehntelanger Tradition geschöpften einzigartigen Kombinationsspiels.
Nun hab ich diese Vorliebe nicht vererbt bekommen, sondern mir selber zusammengeleimt, auf der Basis von Kinder/Jugend-Eindrücken (auf die ich nicht näher eingehen möchte, weil das hier schon irgendwann einmal Thema war - den Link suche ich noch und stell ihn dann hier rein...). In der absurden Unveränderlichkeit von einmal wertgeschätzten Systemen steckt nämlich genauso viel Sicherheit wie in den zuvor angesprochenen Beispielen.
Seit ich denken kann, hat sich mein Eishockey-Ranking nicht verändert. Ich will die Russen siegen sehen, ich will die Tschechen im Finale und ich will die Finnen als dritte und die Schweden am besten als 4., nur um sie zu ärgern. Ich will auch, dass die Kanadier weit kommen, aber nie, dass sie gewinnen.
Der absurde Privat-Kanon
Das ist deshalb absurd, weil mein Kanon in anderen vergleichsweise wichtigen Kategorien ein extrem offener, jederzeit Einnehmbarer ist.
Neue, unfassbar tolle Musik, hat sich seit jeher den Weg in meinen persönlichen Pantheon gebahnt, bei jeglicher anderer Kunst ist es ähnlich.
Und auch im Fußball sind mir zwar alte Helden-Mannschaften durchaus wert und teuer, wenn was/wer Neues/r dazukommt, ist's mir mehr als recht. Egal ob früher nicht relevante Nationalmannschaften wie z.B. Portugal (die auf meiner Landkarte erst in den 90ern wirklich auftauchten) oder eine Menge afrikanischer Nationalteams, oder - auf Vereinsebene - fresh faces wie z.B. Leverkusen oder aktuell Hoffenheim haben dann meine Klüngel-Strukturen aufbrechen und sich in die Herzen spielen können.
Knochenmann
Bei Eishockey hingegen bin ich der Knochenmann.
Die alte Hierarchie darf nicht angetastet werden.
Das Allstar-Team des 20. Jahrhunderts enthält vier Russen:
Wladislaw Tretiak; Wjatscheslaw Fetisow, Borje Salming, Valeri Charlamow,Wayne Gretzky, Sergei Makarow).
Die neu hinzugekommene Slowakei wurde bei mir gnadenlos zurückgereiht - und das, obwohl mein CSSR-Alltime-Idol Vaclav Nedomansky eigentlich Slowake ist - hinter die Big 6 (die bereits erwähnten 5 und die USA).
Die Eishockey-Mittelmacht Lettland erfährt meine Akzeptanz nur über einen komplexen Assoziations-Weg über das große Landes-Idol Helmut Balderis. Der war, noch zu USSR-Zeiten, immer ein wenig untergebuttert worden, weil er eben kein Spross der klassischen Moskauer Schule war, sondern ein Renegat aus Riga.
Seltsamerweise konnten mir weder diese noch andere realpolitische Ungeheuerlichkeiten, die die Sbornaja, das alte Sowjet-Team, immer umflorten, davon abhalten es zu bewundern. Und das, obwohl ich sonst gegen diese Alibi-Krankheit, Sport und Politik auseinanderhalten zu wollen, immun bin. Ist nur bei Eishockey derart extrem.
Auch die wenigen, dafür immer umso bedeutenderen Siege der alten CSSR-Mannschaft gegen die der politischen Besatzer, der Sowjetunion, die nach 1968 immer eminente politische Bedeutung hatten, halfen nicht meinen Kanon zu ändern, die Hierarchie zu drehen.
Hierarchisches Denken
Auch als die jeweils mit den allerbesten Truppen ausgestatteten Super-Gipfeltreffen der Welt-Mächte beim (zwischen '76 und '91 nur fünf Mal ausgetragenen) Canada-Cup stattfanden, waren die Siege der kandischen Götter um Bobby Orr oder später Wayne Gretzky zwar tolle Ereignisse - beim '81er-Triumph der besten 1. Linie aller Zeiten (Tretjak; Fetisov, Kasatonov; Michailow, Petrow, Charlamow) hab ich aber mehr gejubelt.
Die aktuelle Weltrangliste, nach der eben abgespielten WM, macht mich schnurren:
1. Russland
2. Canada
3. Schweden
4. Finnland
5. USA
6. Tschechien
7. Schweiz
8. Belarus
9. Slowakei
10. Lettland
11. Norge
12. Deutschland
13. Danmark
14. Frankreich
15. Italia
16. Österreich (trotz des Abstiegs!)
17. Slowenien
18. Kazachstan
19. Ukraine
20. Ungarn
Als die Russen nach der Auflösung der Sowjetunion ab 1993 zusehends ihre Qualität verloren, als Strukturen, Gelder fehlten, die Nachwuchsarbeit versagte, alles ans Ausland oder Neureiche verscherbelt wurde und die Kraft der Sbornaja über zehn Jahre lang nur als Schatten seiner selbst aktiv war, bin ich - eishockeyzuschauertechnisch - unrund gelaufen.
Mir hat was gefehlt. Nix mit Freude über andere und Neues (wie in allen anderen Bereichen), kindliches Beharren auf Altgewohntem.
Seit drei Jahren geht's nun wieder: Die Russen sind zurück an der Spitze, die alten Duelle mit der anderen alten Weltmacht sind wieder da. Die Tschechen haben ihre kurzfristig an den kleinen slowakischen Bruder verlorene Vormachtstellung auch wieder zurückerobert, Finnen, Schweden, US-Amerikaner sind wieder alle an ihren gewohnten Plätzen.
Und mich macht eine WM wie die gerade abgelaufene und vor allem ein Finale wie das gestrige ganz rund und zufrieden.
Ich mach mir jetzt keine Sorgen wegen dieses ausgeprägt reaktionären Verhaltens. Erstens ist es mir bewusst, und zweitens hat es nicht auf andere Bereiche, wo ich Veränderung teilweise vielleicht sogar überbewerte, übergegriffen. Seltsam ist und bleibt es aber trotzdem...