Erstellt am: 14. 5. 2009 - 11:42 Uhr
Jugendträume im Ostblock
Verlag und Presse nennen Peter Sis' Werk ein Kinderbuch. Tatsächlich ist Die Mauer: Wie es war, hinter dem Eisernen Vorhang aufzuwachsen ein Stück Zeitgeschichte für alle.
Peter Sis wird 1949 in Brünn geboren, und besucht die Akademie für Angewandte Kunst in Prag und das Royal College of Art in London. In den 60ern illustriert er politische Studentenzeitschriften, und moderiert seine eigene Radioshow. Seit den 80ern ist er als Animationsfilmzeichner, Graphikdesigner und Jugendbuchautor tätig. Heute arbeitet und lebt er in New York.
Peter Sís
In einer Collage aus Comics, alten Fotos, Kinderzeichnungen und Tagebucheintragungen beschreibt der Künstler einzelne Stationen seines Lebens in der kommunistischen Tschechoslowakei.
Als Schulkind marschiert er in Paraden, und lernt, seinen Eltern aufmerksam zuzuhören. Staatstreue und Denunziation werden Pflicht. Die Bilder dieser Indoktrination zeichnet Sis schwarz-weiß. Und natürlich rot. Ein penetrantes Rot, das auf Panzerflaggen, Pionierhalstüchern und Hammer und Sichel den kommunistischen Alltag färbt. Bunt sind seine Bilder nur dort, wo er dem tristen Grau in Grau seine Kinderzeichnungen entgegensetzt, oder in groß angelegten Collagen, die seine Sehnsucht nach dem Westen thematisieren.
"Alles, was aus dem Westen kommt, ist bunt und interessant."
Ab Mitte der 1960er bekommt die Mauer Risse. Immer mehr Nachrichten aus dem Westen dringen durch, und Sis nimmt heimlich Rockmusik im Radio auf. Er lässt sich die Haare wachsen und gründet eine Band.
Illustrations for THE WALL © 2007 by Peter Sís, used with the permission of Farrar, Straus and Giroux.
1989-2009
Der Schwerpunkt auf FM4
1968 wird Alexander Dubcek erster Parteisekretär und führt die Tschechoslowakei mit seinen reformistischen Bestrebungen in den Prager Frühling. Für eine kurze Zeit scheint alles möglich. Die Zensur wird gelockert, die Arbeiterklasse darf Jeans tragen, und Sis erhält ein Reisevisum und trampt durch Europa. Anders als der Held in seinem Buch ist er in London, als im August 1968 die sowjetischen Panzer einrollen. In dem naiven Glauben, es werde alles nicht so schlimm, kehrt er zurück. Zunächst darf er sogar noch eine eigene Radioshow machen. Er interviewt die Beatles, Led Zeppelin und The Who, und begleitet die Beach Boys auf ihrer kleinen Tour durch die Tschechoslowakei.
Doch spätestens, als die Geheimpolizei eines dieser Konzerte als Hinterhalt nutzt, und es zu Prügeleien und Verhaftungen kommt, ist klar, das Regime duldet keinen künstlerischen Ausdruck, der der sowjetischen Doktrin entgegensteht.
"Mein erster Auftrag - ein Cover für Karel Cernochs
Letiste (Flughafen). Ich male einen kleinen Flughafen mit einem rotweißen Windmesser, der vom Wind gebläht ist. "Hast du aufgepasst aus welcher Richtung dein Wind bläst?", fragt mich der künstlerische Leiter. Ich glaube, der macht einen Witz, und lache. "Das ist sehr wichtig", sagt er. "Kommt der Wind von Westen, könnte man denken, er komme aus Deutschland und blase in die Sowjetunion!" Er ruft in den Ministerien für Kultur und Inneres an, und gottlob gibt's keine Einwände. "Dein Wind bläst in die richtige Richtung", sagt er erleichtert."
Illustrations for THE WALL © 2007 by Peter Sís, used with the permission of Farrar, Straus and Giroux.
Die Repressionen werden härter. Radiozensur, Bücherverbote, Telefonüberwachung und Observationen kehren zurück. Die Grenzen werden geschlossen, Dissidenten werden verfolgt, eingesperrt und gefoltert. Die Studenten Jan Palach und Jan Zajic verbrennen sich aus Protest selbst. Keine Rede mehr von Beatles und Co.
Flucht
Bis in die 1980er Jahre sollte sich an dieser Situation wenig ändern. Die Texte im Buch sind in diesem Abschnitt noch dünner gesät. Die ganze Fläche ist mit Bildern waghalsiger Fluchtversuche gefüllt - Flugmaschinen, Tarnungen, Tunnels - mittels derer so viele Menschen die Mauer überwinden wollen. Sich selbst zeichnet Peter Sis Flügel aus Skizzenblättern.
Carl Hanser Verlag
In Wahrheit verlässt der Künstler die Tschechoslowakei, bevor die Mauer fällt. 1984 ist er in Los Angeles, um einen Film über die Olympischen Spiele zu drehen. Als die Sowjetunion die Spiele boykottiert, wird er zurückbeordert.
"Aber ich blieb. Es war, nach all der Zeit der Manipulationen, keine leichte Entscheidung. Denn ich fürchtete, meine Familie nie wiedersehen zu dürfen. Ich ging davon aus, dass die Sowjets bis in alle Ewigkeit an der Macht bleiben würden. Wenn ich heute mit meiner amerikanischen Familie in die lebensfrohe Stadt Prag komme, will man mir kaum glauben, dass es einst ein Ort der Angst, der Verdächtigungen und der Lügen war."