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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

9. 5. 2009 - 21:18

Journal '09: 9.5.

Digitale Immigranten.

Unlängst hat während einer Autofahrt einer, der sich intensiv damit beschäftigt hat, erzählt, was alle die sich auskennen eh schon wissen, was mir aber neu war: dass sich China, dieses ethnisch völlig zerrissene, monströse Staatsgebilde nicht durch eine gemeinsame Sprache, sondern vor allem durch die gemeinsame Schriftkultur definiert. Die Sprach-Unterschiede sind keine harmlos-ähnlichen Dialekte, sondern eklatant - wie deutsch zu schwedisch, sagt der dazu gestern befragte chinesisch-stämmige Experte. Die Schrift hingegen, die wäre allen gleich.

Anderswo, hierzulande zb, gehen Schrift und Sprache vergleichsweise Hand in Hand. Auch was ihre Veränderbarkeit betrifft. Denn während eine Zeichen-Schrift wie eben die chinesische ihre Bedeutung über ihre Unveränderbarkeit bezieht, leben die Lateinischen Schriften durch ihre Flexibilität.

Sprache, geschüttelt und gerührt.

Deshalb hat das den Untergang des Abendlandes beschwörende Gejammer über neue Ausdrücke, Codes, Abkürzungen, Neuein- oder Überführungen etwas Belustigendes: es tut so, als wäre hier China. Oder die alte Kirchenherrschaft, als das Beherrsches des Lateinischen dazu nötig sich schriftlich mitzuteilen.
Dieser gern konstatierte Verfall sprachlicher (und damit einhergehend moralischer) Sitten stellt also (im Gegenteil) das Entwicklungs-Potential einer lebenden Sprache dar.

Und nichts rüttelt Sprache so sehr durch wie die aktuell stattfindende digitale Revolution.

In diesem Zusammenhang ist in einem lesenswerten Schwerpunkt der deutsche Wochenzeitung Jungle World einiges an Aufälligkeiten herausgearbeitet worden.
Und zwar unter dem schönen Titel:

WTF?

jungle world cover

jungle world

Etwas, dass das Gesülze vom bösen E-Mail, das den armen Brief getötet hat, eine Mär ist. Zum einen, weil sich Funktion von Brief und E-Mail immer noch deutlich unterscheiden, zum anderen, weil die elektronische Schnellnotschaft letztlich was ganz anderes, nämlich die Terrorherrschaft des Festnetz-Telefons bekämpft. Kann ich, als Ex-Telefonierer und Nunmehr-Mailer zutiefst bestätigen.

Oder die Sache mit der Wertlosigkeit des Chat-Formats. Der Chat erfordert Schnelligkeit und Sprachfertigkeit, er transferiert die mündlichen Fertigkeiten (also die Fähigkeit der streetcrediblen Goschn) in eine improvisierte Schriftlichkeit. Er kann also für den tendenziell schriftsprachlosen Österreicher einen Anschluß an zumindest bundesdeutsche Standards bedeuten.

Oder die fortschreitende Veranglizierung - die nichts anderes ist als ein das Biotop wahrender Förster, der abgestorbene Begriffe abschießt. Denn: kein deutsches Wort, das Klasse hat, wird aussterben; nur die, die so schwach sind, dass sie keiner mehr verwenden will.

Oder die Sache mit den Kürzeln, den Abkürzungen, Emoticons und Neo-Phrasen. Die sind ja die offensichtlichste Erweiterung der sprachlichen Palette, der klarste Beleg für die Kreativität, die aus den neuen Möglichkeiten entsteht, ein Landgewinn von holländischen Ausmaßen.

Digital Immigrants

In diesem Zusammenhang fällt den Jungle World-Autoren etwas auf, was mir zwar auch aufgefallen ist, worüber ich aber (sträflicherweise) nicht weiter nachgedacht habe: dass nämlich die Kommunikationsform der alleraktuellesten digitalen entwicklung, bei Twitter nämlich, erstaunlich herkömmlich funktioniert. Bis auf die dort nötigen # und @ findet nichts von dem, was sich die digital natives sonst an Raumgewinbn via Tastatur-Kommunkation erarbeitet haben, statt.
Hat damit zu tun, dass der durchschnittliche Twitterer ein 35jähriger Mann ist, also ein digital Immigrant, einer der alten Schule eben. Leute, die im "thick accent aus Analogistan" daherschreiben. Potentielle Witzfiguren der neuen Welt, die in den nächsten 10, 15 Jahren alle derzeit noch aktuellen Wertesysteme auf den Kopf gestellt haben wird.

Das Netz ist überfremdet!

Gerade dort, wo es - wie bei der SMS - darum geht mit wenigen Zeichen viel zu erzählen (und beim Twittern sind das eben nur 140), dort wo Sprach-Ökonomie angebracht wäre, "die Triebfeder innovativen Sprachgebrauchs", versauen die alten Säcke alles.
Noch.

Denn hier tritt das, was von den Digital Natives gefordert wird, umgekehrt in Kraft.
Erwartet man von einer Generation, die mit überholten Zeichensystemen innerhalb aussterbender Medien umgehen muß, dass sie das aktuelle Zeichensystem, die aktuelle Norm erst einmal beherrschen um sie dann kritisieren oder gar verändern zu können, so ist der Scheitelpunkt erreicht, an dem es umgekehrt genauso nötig ist die Normsprache des Digitalen zu beherrschen um sie zu beeinspruchen, oder besser: um es überhaupt richtig zu benutzen.

Und zwar ziemlich genau ... jetzt, sagen wir, per heute Mitternacht.

Sprache ist offen

Keine Sorge, ich kann das auch nicht. Meine Twittereien sind formal so konventionell wie nur was, älteste alte Schule. Sie funktionieren nur deshalb, weil sie durch ihrer eigenen Duktus herausstechen, in einer bewußt knapp formulierenden Umgebung Wert auf einen erkennbaren Stil legen. Das klappt immer - und eckt genauso an wie die Verwendung von Außenstehenden unverständlichen Kürzeln.

In Wahrheit, steht da irgendwo im Jungle World-Schwerpunkt, ist "das organizistische Bild der Nationalsprache, gegen das hier angekämpft wird, selbst eine Fiktion. In Wahrheit ist jede elaborierte Normsprache ein offenes Gebilde."

Bis auf die eingangs erwähnten chinesischen Schriftzeichen vielleicht.