Erstellt am: 8. 5. 2009 - 17:25 Uhr
CERN und das schwarze Loch
Der Magazinstapel neben meinem Bett schrumpft nicht. Zum einen liegt das an der Menge von Zeitschriften, die ich trotz World Wide Web immer noch abonniere, zum anderen an der Informationsdichte der Publikationen: Technology Review etwa (die Zeitschrift des MIT) oder Spektrum der Wissenschaft (der Scientific American auf Deutsch). Beliebtes Thema in Heften dieser Art: Die Struktur des Universums.
Die M-Theorie ist schön
In ihr besteht die Welt nicht aus vier Dimensionen (drei räumliche und eine zeitliche), sondern derer elf. Was wir bisher als subatomare Teilchen wahrgenommen haben, sind eingerollte Saiten (Strings), die in verschiedenen Frequenzen schwingen und deshalb als unterschiedliche Teilchen erscheinen. Das Universum als kosmische Symphonie. In anderen Dimensionen schweben Membranen (sogenannte Branes), eine solche Membran enthält unser Universum. Der bisher als Urknall angenommene Beginn unseres Universums war eine Kollision von Branes, die immer wieder vorkommen kann und zur Geburt neuer Universen führt. Von den 11 existierenden Dimensionen nehmen wir nur vier wahr, weil die anderen zu klein, zu groß oder zu eingerollt sind.
Suche nach Wahrheit
Die M-Theorie ist ein Gedankengebäude, geschaffen von Physik- und Mathematikgenie Edward Witten. Witten vereinte mehrere widersprüchliche String-Theorien, die viele Jahre für Diskussionen und Kopfzerbrechen bei Physikern weltweit gesorgt hatten. Dass es für Wittens funktionierendes mathematisches Modell des Universums noch keinen Beweis gibt, ist in der Physik normal: Auch Beweise für Einsteins Erkenntnisse (etwa für die Krümmung des Raums) wurden erst viele Jahre nach deren Berechnung erbracht.
Wenn Teilchenphysiker heute von der Suche nach neuen subatomaren Teilchen (z.B. dem Higgs-Boson oder den schweren supersymmetrischen Teilchen) sprechen, dann meinen sie in Wirklichkeit die Suche nach der Struktur der Welt. Die Erde ist rund und kreist um die Sonne. Die Sonne ist eine von 100 Milliarden in der Galaxie. Die Galaxie ist eine von vielen Milliarden. Das Universum? Vielleicht auch eines von vielen. Die Erde ist keine Scheibe, und um die Wahrheit über die Struktur des Universums zu sehen, werden Teilchenbeschleuniger benötigt. Der weltweit größte davon steht in Genf, in der seit 50 Jahren erfolgreichen Forschungsanlage CERN, dem Europäischen Kernforschungszentrum.
CERN und das WWW
Die Beendigung der österreichischen CERN-Mitgliedschaft wurde gestern von Wissenschaftsminister Johannes Hahn angekündigt – jenem Mann, der seit Monaten vehemente Lobbying-Arbeit für das E-Voting in Österreich betreibt. Wählen über das World Wide Web ja, die Beteiligung an jener Einrichtung, an der Tim Berners-Lee das World Wide Web erfunden hat, nein. Willkommen in Österreich. Es geht um jährlich 16 Millionen Euro, das sind 0,47 Prozent der Forschungsausgaben. Provinzieller wird es nicht mehr - und auch nicht willkürlicher, denn es verwundert die Tatsache, dass die Entscheidung des Ministers wieder einmal ohne jegliche Beteiligung der Betroffenen (in diesem Fall der österreichischen Wissenschafter) erfolgt ist.
Die Entstehung des WWW kann man ruhig auch als "Abfallprodukt" des Kernforschungszentrums betrachten: Derer gibt es viele, und sie sind ein Grund, warum eine Beteiligung – und zwar eine aktiv wissenschaftliche, nicht eine beobachtende – an CERN sinnvoll ist. Entwickelt werden am CERN derzeit nicht nur Theorien über die Beschaffenheit der Welt, sondern auch die in naher Zukunft wichtigste Erweiterung des World Wide Web, das Semantic Internet.
Österreicher waren in den vergangenen 50 Jahren führend an der Forschung und Leitung des CERN beteiligt, unter anderem durch zwei Generaldirektoren (Victor Frederick Weisskopf und Willibald Karl Jentschke), der Staat hat auch erhebliche finanzielle Investitionen eingebracht. Ausgerechnet jetzt, Monate bevor in Genf der Teilchenbeschleuniger LHC in Vollbetrieb geht, will Hahn die Zusammenarbeit beenden. Die angekündigte Beendigung der Teilnahme Österreichs zerstört nicht nur teure wissenschaftliche Projekte und begonnene Karrieren, sondern auch jahrelang aufgebautes Vertrauen. Und Österreich wäre das erste Land seit 48 Jahren, das dauerhaft aus CERN austritt – als einziges Land hat das bisher nur Jugoslawien im Jahr 1961 getan.
Entsprechend aufgebracht sind österreichische Wissenschafter heute. Der Wiener Physiker Walter Thirring, seit der Gründung an der Arbeit im CERN beteiligt, spricht von einer Katastrophe, E-Mail-Adressen von Minister und Parteichefs kursieren in wissenschaftlichen Foren. All das hält Martin Kugler in der Tageszeitung Die Presse nicht davon ab, Hahns Entscheidung heute als richtig zu beurteilen. Im jämmerlichsten Leitartikel, den ich in dieser Zeitung bisher gelesen habe, wärmt er die Mär von schwarzen Löchern und Weltuntergang auf und nennt die Teilchenphysik eine ausgelaufene Forschungsrichtung, die "wie ein Dinosaurier" anmute. Stattdessen fordert er eine Grundlagenforschung, aufgrund derer Österreich "sichtbar" sein solle - ganz so als ginge es in der Wissenschaft primär um Marketingerfolge. Und das deckt sich verblüffend exakt mit der Argumentationslinie des Wissenschaftsministers.
Nachtrag: Eine Online-Petition gegen den Ausstieg Österreichs aus CERN hat innerhalb weniger Tage bereits mehr als 14.000 UnterstützerInnen gefunden (Stand 13. Mai).