Erstellt am: 5. 5. 2009 - 21:21 Uhr
Dark Was The Night Live
Schrapnell, Feuerwerk oder brennende Girlanden? So sieht der große Saal der Radio City Music Hall in Midtown/Manhattan aus, wenn man im Orchestergraben kauert, sich blitzschnell umdreht und mit der falschen Kameraeinstellung in die Tiefe knippst.
Radio FM4 / Christian Lehner
Wir sind ein halbes Platoon schwach, zusammengepfercht am rechten Rand der Bühne unter der Kante. Die Anweisungen: "No flash, shoot only during the first song, don´t stand in anybody´s way, there are no seats for you guys, get on your knees, the show will start soon! Understood?" Aye, aye Sir, Frau Publicity Dame, Sir! Und ich hatte Stunden zuvor noch über FB versucht, meine friends mit dem Hinweis "erste Reihe fußfrei" eifersüchtig zu machen. Erste Reihe fußfrei indeed.
Radio FM4 / Christian Lehner
8.30 pm. Die Lichter gehen aus. Den Reigen der guten Sache eröffnen die Dirty Projectors. Beim ersten Ton beziehen wir Stellung. Die Soundsalven donnern über uns hinweg. Nur langsam schälen sich Songs aus dem Lärmnebel. Wir halten einfach drauf los. Die Kollegin neben mir flucht. Ihre EOS hat Ladehemmungen. Dann heißt es wieder in Deckung gehen, Kopf unter.
Radio FM4 / Christian Lehner
Die Projectors präsentieren Songs vom demnächst erscheinenden Album 'Bitte Orca' und den Smasher 'Knotty Pine', jene wunderbare Kollabo mit David Byrne, die den 'Dark Was The Night' Sampler eröffnet. DP Neuzugang Haley Dekle gibt sich dem Anlass entsprechend staatstragend ...
Radio FM4 / Christian Lehner
...während für den Digi-Soldier im Orchestergraben Sänger Dave Longstreth nur im Screen an der gegenüberliegenden Wand sichtbar ist. Eigentlich ein verbotenes Bild, das hier. Immerhin sind wir schon bei Song Nr. 2, 'Stillness'.
Radio FM4 / Christian Lehner
Nächste Chance: Shara Worden aka My Brightest Diamond. Nach der Holzfällerhemden-Attacke der Dirty Projectors versprüht Worden mit ihrem Glitzerkostüm und einer selbstbewussten Performance einen Hauch von Glam. Dementsprechend Ellbogen im Gesicht und Konkurrenz-Objektive vor der Nase. Das Nina-Simone-Cover 'Feeling Good' korrespondiert perfekt mit der Showtime-Aura des 1932 als High-Class-Varieté erföffneten Entertainment-Tempels.
Radio FM4 / Christian Lehner
"The Boxer" - Matt Berninger von The National in gewohnt inniger Umarmung mit dem Mikrophon. Im Schützengraben melden sich die ersten Wadenkrämpfe. Auf der Bühne Americana. Berningers Stimme sucht tiefen Grund zwischen Cash und Cave. Seine Bandmates, die Brüder Aaron & Bryce Dessner, haben die Dark Was The Night Compilation zusammengestellt und produziert. Das großartige Duett 'Vanderline, Cry Baby Cry' (featuring My Brightest Diamond) weckt Hoffnung auf ein neues The National Album.
Christian Lehner
Mister Dave Sitek solo. Das auf Crooner Tempo heruntergepitchte 'With A Girl Like You' Cover (Original: The Troggs) zählt zu meinen Favouriten auf dem DWTN-Sampler. Allein, ohne seine Band wirkt Sitek etwas verloren auf der Bühne. Der Charme der Produktion, diese Verschränkung des TV On The Radio-typischen Bassflirrens mit angetupften Orchestra Manoeuvres In The Dark Synths und dem statischen Murmelgesang im Geiste von The Jesus And The Mary Chain, will sich live nicht so richtig entfalten. Niemand weiß das besser als der Performer auf der Bühne, der sich genau deshalb hörbar zurücknimmt und die Sache anständig zu Ende bringt. Und das hat dann auch wieder was. Höflicher Applaus, dann aus dem Bühnenhintergrund Pauken, Trompeten und Steel Drums ...
Christian Lehner
Einzug der Gladiatoren. Shoot, shoot, shoot! David Byrne ist der eigentliche Star des Abends. Vor 20 Jahren hat er als erster Künstler einen Song für die Aids-Charity der Red Hot Organisation beigesteuert. Sein heutiges Set, eine Sammlung jener Stücke, die der Ex-Talking Heads Maestro über die Jahre für die Compilation-Serie aufgenommen hat, gerät zum Triumphzug in Bossa und Calypso.
Radio FM4 / Christian Lehner
Graue Tolle, 50ies Zwirn mit Spruch am Rücken ("Anything Else Is Rubbish!") gibt Byrne den entfesselten und Hüften kreisenden Elvis und demonstriert, wie der King es in der 'Blue Hawaii'-Phase besser hätte machen könnnen. Der Song 'Dreamworld: Marco De Canavesems' verwandelt die gediegene Konzerthalle kurzerhand in ein Hal Wallis Filmset ca. 1961.
Radio FM4 / Christian Lehner
Pause - Gliedmaßenentkrampfung. Unser Aufpasser am Bühnenrand erzählt, dass 6.000 Personen in die Radio City Music Hall passen. Hmmm? Der Fotograf der New York Times meint zerknirscht, dass seine Branche gerade den Bach runtergeht. Aufmagaziniert wie ein US-Marine lächelt er milde über mein Low-Fi-Equipment. Es sind Amateure wie ich, die seinesgleichen das Leben schwer machen. Stellung beziehen, nächster Act.
Radio FM4 / Christian Lehner
Auftritt Bon Iver. Stimmung: blue goosebumps. Vier Stücke ohne Distanz. Duette mit My Brightes Diamond und Matt Berninger (The National treten den Abend hindurch als Backing-Band mit wechselnder Besetzung auf). Nach 'Flume', dem Opener des letztjährigen Blockhaus/Tränenalbums 'For Emma, Forever Ago' verwandelt sich das andächtie Auditorium in ein applaudierendes Tollhaus. Ivermania!?
Radio FM4 / Christian Lehner
Blue was the night - kultivierter Schmerz auf der Bühne, Kniescheiben Blues im Orchestergraben und ein Schuss ins Blaue. Dann ein Videointermezzo über Feminismus und Rock aus den früheren 90ern starring Kim Gordon, Bikini Kill und Luscious Jackson.
Christian Lehner
Bin ich eigentlich der einzige, der das balladeske Lied- und Leidgut von Leslie Feist eher langweilig findet; egal ob Eigenkomposition oder - wie an diesem Abend - ausschließlich Fremdinterpretationen? Drei Songs lang wandert die Aufmerksamkeit erstmals völlig weg vom Geschehen auf der uns noch immer kaum einsichtigen Bühne hin zu den Leiden des - ähm - jungen Lehner. Doch dann überrumpelt mich Frau Feist mit Dylans Blues-Smasher 'Someday Baby', der dermaßen zielsicher in die Eingeweide fährt, dass sich die restliche Pein innerhalb weniger Takte auflöst. Meine Offenbarung dieses Abends. Apropos ...
Radio FM4 / Christian Lehner
... Sharon Jones und ihre Dap-Kings. Die ehemalige Knastwärterin aus Georgia ist wahrlich die "undisputed soul queen of our times", wie es ein Bekannter im Anschluss an diesen denkwürdigen Auftritt auf den Punkt bringen sollte.
Radio FM4 / Christian Lehner
Es dauert keine zwei Songs und erstmals steht das Publikum auf den Sitzen. Eine gute Gelegenheit für uns Untererdigen, die "only one song" Direktive durch gegenteilige Praxis auszuhebeln (noch dazu, wo das Publikum ohnehin die Bühne mit Blitzlichtsalven aus Kompakt- und sogar Spiegelreflexkameras belegt). Einstweilen kündigt Frau Jones an, an sich selbst einen "James Brown" Exorzismus vorzunehmen und flitzt mit entsprechenden Moves und Steps über die Bühne. Oh Lord! ...
Radio FM4 / Christian Lehner
... denkt sich auch das All-Stars Schlussensemble featuring Feist, St. Vincent, Bon Iver, The National u.a.. Angestimmt wird Woody Guthries 'This Land Is Your Land', das die Dessner Brüder Pete Seeger widmen, der zur selben Stunde einige Blocks weiter westlich im Madison Square Garden mit Bruce Springsteen und anderen seinen 90sten Geburtstag feiert. Congrats Pete und brav die Finger vom Stecker lassen!
Radio FM4 / Christian Lehner
Abermals stürmt Sharon Jones ins Zentrum des Geschehens. Mittlerweile hält es niemanden mehr in den Sitzen. Obwohl uns die Security-Leute anherrschen, kommen auch wir aus unseren Stellungen hervor. Dreieinhalb Stunden knien ist dann doch etwas zu katholisch.
Radio FM4 / Christian Lehner
Was für ein Abend, was für eine gelungene Umsetzung der vielleicht besten zeitgenössischen Compilation in Sachen avancierter Ostküsten-Pop.
Radio FM4 / Christian Lehner
Verstaucht aber beseelt zurück auf die Straße und rein in das Gershwin-Setting einer verregneten New Yorker Mitternacht.
Infos und Links zur Aids Hilfeorganisation 'Red Hot' könnt ihr hier finden, die Setlist und mo´ Pix auf Brooklynvegan.com. NPR wird das Konzert demnächst als Stream zur Verfügung stellen.