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Mari Lang

Moderiert, beobachtet und probiert aus – neue Sportarten, Bücher und das Leben in der Ferne. Ist Ungarn-Fetischistin.

4. 5. 2009 - 20:01

In Ungarn maturiert das ganze Land

In den Zeitungen, im Fernsehen und auf der Straße - die Maturanten sind überall. Und sie werden reichlich beschenkt. Mit einem Ball, der "ballagás" und Laptops.

Ervin Lázár war ein ungarischer Schriftsteller und Geschichtenerzähler, der 2006 in Budapest verstorben ist. Er ist vor allem für seine Märchen bekannt.

Mária ist 18 und geht seit fünf Jahren auf die Xántus Janós Tourismusschule in Budapest. Heute ist einer ihrer letzten Tage in dem altehrwürdigen Backsteingebäude. Wie alle Maturanten im Land brütet sie am Vormittag über der schriftlichen Ungarischmatura und soll eine Erzählung des Schriftstellers Ervin Lázár interpretieren.

Seit Jahrzehnten schon ist die Matura in Ungarn zentral geregelt, d.h. jeder Schüler bekommt um die gleiche Zeit exakt die gleichen Aufgaben. Beurteilt werden diese dann vom Klassenlehrer mithilfe eines standardisierten Korrekturschlüssels. Ähnliches ist in Österreich ab dem Schuljahr 2013/14 geplant.

Traditionelle Maturavorbereitungen

Die letzten Wochen hat Mária mit Lernen zugebracht, die letzten Monate mit den restlichen Maturavorbereitungen. Tradition wird an Ungarns Mittelschulen nämlich hochgehalten. Bevor man mit dem Zeugnis die Schule verlassen darf, ist einiges zu tun. Stoffe auswählen für die „ballagási“-Uniform zum Beispiel, die Uniform fürs Schulabschlussfest. Mària und ihre Klassenkameraden haben sich für schwarz-weiß melierte Jacken, Hosen und Röcke entschieden, in denen sie schon im Januar fotografiert worden sind. Eine Holztafel mit ihren Bildern drauf, die „érettségi tabló“, hängt jetzt in einem Süßwarengeschäft in der Budapester Innenstadt. Jeder soll sehen können, wer in Zukunft Großes leisten, sprich maturieren, wird.

Ein Maturant in schwarz-weiß melierter Jacke mit einer Leinentasche. Darauf ist das Schulein- und –austrittsdatum vermerkt.

Mari Lang

Eigens für die Maturafeierlichkeiten gefertigte Anzüge

Doch zuerst kommt noch der „szalagavató bál“, der Maturaball, der üblicherweise im Februar stattfindet und ähnlich wie in Österreich abläuft. Márias Klasse hat in einer kleinen Veranstaltungshalle am Budapester Stadtrand mit Eltern, Freunden und Lehrern gefeiert. Aufgemascherlt in edlen Kleidern und Anzügen haben sie die Nacht durchgetanzt. „Normalerweise tanzt man so lange, bis man nicht mehr stehen kann“, erzählt Mária mit einem Augenzwinkern. „Wenn man dann laut singend nach Hause torkelt, regt sich kaum jemand auf. Die Meisten haben Verständnis, wenn sie dein „szalag“ sehen.“ Das „szalag“ ist eine kleine Schleife, die die Schüler bei der Eröffnungszeremonie des Balls vom Direktor auf ihre Jacke gesteckt bekommen. Auf dieser ist das Schul-Ein- und Austrittsdatum notiert. Jetzt sieht Márias gelbes Bändchen schon ziemlich abgenutzt aus. „Ich habe es seit Februar jeden Tag getragen“, erklärt sie. Laut Geschichten so mancher Tanten und Omas muss das Bändchen nämlich bis zur Prüfung angesteckt bleiben. Sonst fällt man durch.

Menschen mit Blumensträußen auf dem Gehweg.

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Einige der unzähligen Passanten mit Blumensträußen auf dem Weg zur "ballagás"

Auch letzten Donnerstag, am Tag ihrer „ballagás“, hat Mária ihre Schleife an ihrer weiß-schwarz gemusterten Jacke getragen. Und einen Blumenstrauß in der Hand, auf der eine noch viel größere Schleife mit Glückwünschen angebracht war. Das Schulabschlussfest an Ungarns Mittelschulen ist ein Event, an dem jeder unweigerlich teilnimmt. Straßenbahnen und Busse sind voll mit herausgeputzten Menschen, und vor den Blumengeschäften stehen die Leute Schlange. Die zukünftigen Maturanten freuen sich wieder einmal im Mittelpunkt zu stehen und die Blumenhändler über den Geldstrom. Der ist, laut Berichten in ungarischen Zeitungen, dieses Jahr wegen der Wirtschaftskrise etwas zurückgegangen. Vor der Xántus Janós Tourismusschule, nahe dem Budapester Westbahnhof, ist davon aber nichts zu bemerken.

Das Treppengeländer der Xantus János Tourismusschule ist mit weißen Blüten geschmückt.

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Der Eingang ist mit bunten Blüten und Schleifen wie für einen Staatsbesuch geschmückt, und jeder Schüler hält einen Blumenstrauß in der Hand. „Derjenige mit dem größten und schönsten Strauß ist der geheime Star des Tages“, sagt Mária, die von ihrer Mutter weiße Rosen bekommen hat. An ihrer Hüfte baumelt ein kleines Leinentäschchen. Jüngere Schüler befüllen es mit Forint Münzen und „pogácsa“, einem Salzgebäck, während die Maturanten im Gänsemarsch durch die Schule spazieren. Im Innenhof treffen alle Klassen zusammen, stellen sich in einer Reihe auf und warten – auf Ansprachen, Gedichte und ein paar Lieder, die mit den Lehrern und Eltern gemeinsam gesungen werden. Es sieht aus wie auf einem Kindergeburtstag. Rot, grün, blau. Jede Klasse hat andersfarbige Luftballons. Dazwischen baumeln ein paar aufgeblasene, streng dreinblickende Eulen im Frack.

Mädchen in Uniform mit Blumen und Luftballons.

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Ein paar Mädchen wischen sich verlegen die Augenwinkel, während eine Lehrerin die Schüler recht schwülstig mit Vögeln vergleicht, die nun ihr Nest verlassen werden und in die Welt hinausfliegen. Die Lehrerin sieht, wie viele der Schüler, müde aus. "Sie hat bis drei Uhr Früh mit uns gefeiert", meint Mária,

Luftballons

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Der Vorabend jeder „ballagás“ heißt nämlich „szerenád“-Abend. Und dabei singen die Schüler, wie einst Romeo unter dem Fenster von Julia, ihren Lieblingslehrern ein Ständchen. Traditionelle Lieder oder moderne, in denen es ums Abschiednehmen geht. Damit die Schüler wissen wo sie genau singen sollen, stellen die Lehrer oft eine Kerze ans Fenster. „Wir haben einmal kurz am Nachmittag geprobt, und dementsprechend hat es auch geklungen. Frau Nagy hat uns nach einem Lied gleich mal zu sich hinauf gebeten, weil die Nachbarn schon geschaut haben“, lacht Mária. In der Wohnung der Lehrerin hat es, wie überall in Ungarn, „pogácsa“ und Getränke gegeben und viele Erinnerungen an die vergangenen Schuljahre. Diese gibt es auch am Tag der „ballagás“ wieder. Nach der offiziellen Feier für Eltern und Verwandte, zieht sich Márias Klasse noch mal in ihren Klassenraum zurück und schaut Fotos und Videos. Die Stimmung ist angespannt. Einerseits, weil Schönes bald zu Ende geht, andererseits, weil nicht so Schönes noch bevorsteht.

Der Innenhofs der Xantus János Tourismusschule mit Luftballons, die in den Himmel aufsteigen.

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Doch vor der Maturaprüfung gibt es für Mária zu Hause noch eine Familienfeier. "Pálinka", den ungarischen Schnaps, für die Erwachsenen, Cola für die Kinder. Mária fällt irgendwo dazwischen hinein und bekommt ein Glas Sekt zum Anstoßen. Nach Fischsuppe im Kessel, die der Opa schon am Nachmittag im Garten vorbereitet hat, wird noch eine Torte mit Sprühkerzen aufgetischt und die Geschenke.

Fischsuppe.

Mari Lang

Traditionelle ungarische Fischsuppe mit vielen Gräten. Dazu Weißbrot, scharfen Paprika und "Unicum" zum Runterspülen

Unterhaltsames zur Matura in Ungarn findet man u.a. im Film „Moskva Tér“ (2001) - eine ungarische Schulklasse maturiert 1989, inkl. „szerenád“, „ballagás“ und einem Maturaskandal, der 2005 tatsächlich so ähnlich passiert ist. Die Aufgaben für die Ungarischmatura kursierten vorab schon im Internet.

Auch die Tanten und Onkeln aus dem Süden Ungarns sind zu Márias „ballagás“ gekommen und überreichen ein Kuvert mit Geld. Von den Eltern bekommt sie einen Laptop. Ein Geschenk, das laut ungarischer Medien, derzeit in ist, neben Handies, Urlaubsreisen und Schmuck. Warum Schüler in Ungarn schon vor der Matura beschenkt werden, konnte niemand so recht erklären. Vielleicht um sie zu motivieren? Vielleicht um ihnen damit zu drohen ja nicht durchzufallen? Mária jedenfalls hat nach der heutigen Ungarischprüfung ein gutes Gefühl. Das Vorfeiern hat wohl geholfen. Morgen ist Mathe dran.