Erstellt am: 2. 5. 2009 - 13:27 Uhr
Stumpfe Krallen
Vor über einem Monat ist es also wieder einmal passiert und ich habe gar nichts mitbekommen. Eine halbfertige Fassung des fettesten Comic-Blockbusters in diesem Frühjahr landet im Netz. Hunderttausende sehen sich "X-Men Origins: Wolverine" auf ihren Computerscreens an, angeblich noch ohne Musik und mit rudimentären Spezialeffekten.
Der Verleih ist außer sich, schaltet sogar das FBI ein, auf der Suche nach der undichten Quelle. Alle wichtigen Blogger leisten einen Schwur, die Arbeitskopie auf keinen Fall zu reviewen. Ausgerechnet ein Onlinekolumnist, der zum selben Medienkonzern gehört, der auch "Wolverine" auf den Markt bringt, bricht das Schweigen. Woraufhin der Mann nicht nur gekündigt, sondern auch von sämtlichen wichtigen Kommentatoren des amerikanischen Filmbusiness geteert und gefedert wird.
Mir ist das alles enorm fremd.
Ich verstehe als Serienjunkie zwar, dass einen die Sucht nach amerikanischen TV-Wundern in die Illegalität treiben kann. Weil eben die Verspätung, mit der Ersatzreligionen wie "Lost" bei uns ankommen, oft mehr als ein Jahr beträgt. Und im Falle vieler essentieller US-Serien weder eine deutschsprachige Veröffentlichung noch ein DVD-Release geplant sind.
Warum jemand aber einen Kinofilm, der bald an jeder Ecke und in den größten Multiplex-Sälen läuft, unbedingt vorher sehen muss, begreife ich nicht. Sich eine Rohfassung reinzuziehen, die möglicherweise noch von einer Leinwand abgefilmt wurde, das erinnert an Kinder, die ihre Geschenke heimlich vor dem Weihnachtsabend auspacken.
centfox
Und, meine Damen und Herren, es gibt wenig Schlimmeres, als Geschenke vor dem Weihnachtsabend auszupacken. Bei einem Roman auf die Schlussseite vorzublättern, ist vielleicht noch ähnlich verwerflich und dumm. Denn in einer gänzlich entzauberten Welt sind klitzekleine Geheimnisse kostbarer denn je.
Gerade während Billionen von Social-Network-Sites und Realityshows daran arbeiten, jede Facette des Alltags noch transparenter und damit die deprimierende Banalität des Seins allgegenwärtig zu machen, braucht es sorgfältig kultivierte Mysterien als Gegenstrategie. In einer Gegenwart, wo die sofortige Verfügbarkeit und totale Transparenz sich als Beschleuniger auf der road to nowhere entpuppen, wird Zurückhaltung plötzlich zu einem beinahe radikalen Akt.
Die auch von einem selber sorgfältig geschürte Vorfreude - auf ein Treffen mit einer noch unbekannten Person, auf einen fremden Ort, ein Konzert, eine neue Platte oder eben einen Film - rückt ins Zentrum, ist vielleicht das einzige, was uns noch bleibt.
centfox
Auf "X-Men Origins: Wolverine" habe ich mich aus mehreren Gründen gefreut. Zum einen, weil man diesen Kerl einfach mögen muss. Wolverine kümmert sich nicht um die Höflichkeitsfloskeln anderer Superhelden, er ist kein edelmütiger Übermensch, der kleine Kätzchen von Bäumen holt.
Grantig, grimmig, schlecht gelaunt sitzt er am Frühstückstisch der X-Men, so wie viele von uns vor dem ersten morgendlichen Kaffee.
Wolverine ist kein schüchterner Nerd, der irgendwann zu bizarren Fähigkeiten gelangt. Er ist ein natural born Außenseiter, ein Clint Eastwood des Marvel-Universums, ein störrischer einsamer Wolf, im wortwörtlichen Sinn. Und das Beste ist, er hat auch noch Humor.
Pluspunkte gibt es aber auch für den Darsteller des Wolverine in bislang drei X-Men-Filmen. Als der Australier Hugh Jackman zum ersten Mal in die Rolle schlüpft, kennt kaum jemand sein Gesicht. Mittlerweile, einige Blockbuster und eine Oscar-Gala später, gilt er als Superstar. In Filmen wie "The Fountain" oder "The Prestige" zeigte Jackman auch eine nicht so animalische Seite. Die Rolle des Mutanten Logan alias Wolverine ist ihm aber immer noch auf den bestens trainierten Leib geschnitten.
Die Figur ist legendär, der Darsteller perfekt - und was ist mit dem neuen Wolverine-Film?
Na ja, das ist so eine Sache. Zack Snyder und Bryan Singer hatten keine Zeit für die Regie, die stattdessen Gavin Hood übernommen hat. Auf dem Papier keine ganz schlechte Wahl, gilt der Südafrikaner doch als engagierter, denkender Filmemacher. Leider sieht man davon wenig auf der Leinwand.
centfox
"X-Men Origins: Wolverine" bedient sich bei Ideen aus verschiedensten Comic-Dekaden. Mit einem Prolog im 19. Jahrhundert beginnt die Geschichte des James Howlett und seines Bruders Victor. Die beiden Mutanten, die höchst langsam altern, kämpfen in beiden Weltkriegen für die USA, in Vietnam kommt es zum Eklat. Der blutgierige Victor will Unschuldige töten, das kann James nicht tolerieren. Aus den Brüdern werden Feinde.
Ein Spezialprogramm des Militärs, unter der Leitung des fiesen Colonel Stryker, schnappt sich die verborgen lebenden Mutanten. Aber James Howlett will keine staatlich trainierte Killermaschine sein. Er steigt aus, nennt sich Logan, zieht sich mit der Liebe seines Lebens nach Kanada zurück.
Natürlich holen ihn die Vergangenheit, das Militär und sein Bruder Victor ein. Eine blutige Auseinandersetzung beginnt, bei der sich Logan, vormals James, in ein neues Wesen verwandelt: Wolverine.
Mehr als manche andere Comicvorlagen bietet dieser Stoff ein großes dramatisches Potential. Die Gänsehautmomente sind aber äußerst rar in diesem Film. Lieblos und formelhaft entfaltet sich die Wolverine-Saga, sämtliche menschlichen und übermenschlichen Konflikte werden unter Unmengen von Action-Getöse begraben. Leider fehlt aber auch diesen endlosen CGI-Schlachten das gewisse Etwas.
Was von "X-Men Origins: Wolverine" zurückbleibt, sind die Schauspieler. Hugh Jackman setzt sich mit seinem brummigen Charme auch gegen die gehetzte Story und die unterdurchschnittlichen Effekte durch. Liev Schreiber überzeugt als finsterer Victor alias Sabretooth, der wunderbare Danny Huston gibt als eiskalter Colonel Stryker einen einprägsamen Bösewicht.
Sie alle sorgen für einen passablen Kinoabend für Marvelkomplettisten und Comic-Kino-Fans. Ein bisschen mehr wäre da aber schon drinnen gewesen.
centfox