Erstellt am: 30. 4. 2009 - 15:17 Uhr
Woodstock oder wir hier
G'roazte Goass, Fut und Blessed Virgin sind in ihren Probekellern. In jeder Band hat ein Mann den Oberkörper freigemacht, wie es in Arztpraxen heißt, und alle tragen lange Haare bzw. Frisuren, die damals unter "lange Haare" liefen: Derzeit wird die steiermärkische Rock- und Popszene von der Vergangenheit bis in die Gegenwart museal seziert und noch mehr inszeniert. Das Büro der Erinnerungen macht den Anfang und begründet das Rockarchiv. Das Kunsthaus Graz widmet sich ab 5. Juni der Popmusik als Gegenstand Bildender Kunst und zeigt Schere - Stein - Papier kuratiert von Diedrich Diederichsen.
absolutely free ist eine Ausstellung und Veranstaltungsreihe am Landesmuseum Joanneum, Neutorgasse 45, 8010 Graz von 1. Mai bis 16. August.
Zuvor, und zwar heute eröffnet absolutely free: ausgehend vom legendären Woodstock-Festival öffnet sich das Landesmuseum Joanneum am 30. April 2009 für den "Woodstock-Effekt" in Graz.
Woodstock war nicht der Beginn der Hippie-Bewegung, deren Anhänger in San Francisco die Subkultur bereits 1967 mit einem "The Death of the Hippie"-Zeremoniell für tot erklärten. Die Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft, eine Liebe für Rock und bunte Farben wurde mit dem "Summer of Love" in San Francisco kommerzialisiert, "San Francisco" landete in europäischen Charts und Hair lief am Broadway.
Woodstock als das Festivalereignis, das zum Symbol einer Generation werden sollte, sich von gesellschaftlichen Konventionen und Werten zu lösen, gegen dekadenten Wohlstand, Konsum und vor allem den Vietnamkrieg zu protestieren, dient der Ausstellung und Veranstaltungen als Zeit- und Themengerüst.
Was unter dem "Woodstock-Effekt" zu verstehen ist und welche möglichen unerwünschten Nebenwirkungen der hat, wird die Ausstellung absolutely free mit Statements von 77 KünstlerInnen und acht KulturwissenschafterInnen unter 30 sowie der Beteiligung von Zeitzeugen noch bis 16. August zeigen. Das Veranstaltungsprogramm der ersten Tage verspricht ein mit Hanf bepflanztes Areal, das als organisch-dynamisches Projekt sprießen soll (alles auf legalem Terrain, angebaut wird Industriehanf), neben Performances steht "Kräuter Yoga für Götter" als Programmpunkt wie "Army of Love - Rebel Clowns" und viele vielversprechende Konzerte fest. Disconebel verklärt meinen Blick. Nichtdestotrotz ist mir schleierhaft, wieso in Graz ein 40-Jahre-Woodstock-Jubiläum begangen wird.
We could flood the streets with love or light or heat
Die Ausstellung will die heutigen Jugend- und Popkulturen feiern und gleichzeitig hinterfragen, ob und wie sie heute noch die Welt verbessern können oder wollen.
Das eröffnet Fragen für ein riesiges Diskurs-Feld, da kann man sich austoben - in alle Richtungen: die Veranstaltungsreihe mit Spatenstich zum Guerilla Gardening und einem Mini als Protest-Wagen spielt mit Subkultur. Ob damit nicht jeder tiefer wurzelnde Gedanke im Keim erstickt wird, wird man sehen. Wenn der Kommerz (oder hier: eine Institution) eine Subkultur überschwänglich umarmt, mit der bislang eine kleine Szene Händchen gehalten hat, sind Liebeskummer und Eifersucht vorprogrammiert. Vielleicht rückt man im "Krisen- und Katastrophen-Summer 2009" näher zusammen, weil man hinaus will aus den Hinterstuben und auf eine Mehrheit hofft, die gesellschaftliche Alternativen zur Abwechslung aufmerksam beäugt.
Wieviel von der Hippie-Bewegung ist in den Sechziger Jahren von den USA auf das europäische Festland geschwappt und hat das Binnenland Österreich erreicht? Das müssen wohl sehr sanfte, kleine Wellen gewesen sein, die im Meer der Dauerwellen und Anzüge untergingen.
Das Theater im Bahnhof wird sich wortwörtlich auf Rundgänge durch das Jahr 1969 begeben - während in den USA auf einer Wiese das Woodstockfestival beginnt, duscht Wolfgang Bauer in der Merangasse 14. Marisa Mell trinkt ihren Nachmittagskaffee im Columbia und Peter Handke schreibt ein Gedicht. Ja, so was gefällt mir, das darf sich dann "Die Scheißhäuser von Woodstock" nennen, auch wenn's in Wahrheit um die heimische Kunst- und Kulturszene geht.
Von Magic 69 zu Fetish 69
Schwarz/Weiß-Fotografien aus den 1960er Jahren bis in die 90er, von Magic 69 zu Fetish 69, dokumentieren im Büro der Erinnerungen, was sich abseits der Pfarrbälle und Tanzschulen abspielte. Vier Wände mit Fotos - passen tatsächlich alle Rockbands der Steiermark in einen Raum? Gab es da auch Frauen mit Gitarre und im Bandverband? Und trugen die soviel Kajal und das Haar getürmt wie Marge Simpson, wie Priscilla Presley und meine Mama in den Sechzigern? Jedes Foto ist ein Hit. Und ein Blick auf "die jungen Wilden" hierzulande.

Büro der Erinnerungen Franz Wurm
Zu den visuellen Erinnerungsstücken sammelt das Rockarchiv Steiermark unveröffentlichte Soundaufnahmen und geht heute, 30. April, online.
Alle Veranstaltungen der Eröffnungstage - mit Ausnahme des Konzerts von Saul Williams - finden im Landesmuseum Joanneum, Neutorgasse 45, 8010 Graz, statt.
Um 17:07 feiert auch absolutely free. Kein Tippfehler, denn das Woodstock Festival hat Richie Havens exakt um 17:07 eröffnet. Der unbekannte Folk-Musiker ging damit in die Popgeschichte ein.
In Graz übernehmen bei der Ausstellungs-Eröffnung die Theatermacherinnen Rabtaldirndln den undankbaren Slot, aber nachdem keine Zelte aufgebaut werden müssen, könnte sich Publikum zur angekündigten "performativen Installation 'Sterbenswörter'" einfinden. Dazu am Besten im lustigen Zwiebellook erscheinen, denn das Spektakel ist als Open Air geplant wie die anschließend folgenden Konzerte. Mit Klaustro-Schlager von Molto Mosso mit Refrains wie "Bist du denn glücklich? In der Firma... deines Vaters", den Upperclass Shoplifters, Supernachmittag, Eloui und LoFi Bohème u.a. baut das Line-Up seine Bühne in der Gegenwart auf. Reunionen dürfen aber auch nicht fehlen: Rosi lebt, eine Grazer Kultband der 80er Jahre - wie sich all jene erzählen lassen können, die in den 80ern noch nicht geboren oder gerade im Kindergarten waren - um Dorit "Chrysler" Kreisler, "Caro Spezial", Eva Ursprung und Andreas Wildbein wird sich Ende Juni einmalig wieder formieren und auf einer Bühne einfinden.

Saul Williams
Alle Infos und Termine auf absolutely free
Dass sich der Blick nicht ständig um- und um die eigene Achse dreht und die Geschichten zu Bildern aus alten Fotoalben die Überhand gewinnen, verhindern zahlreiche Programmpunkte, die im Hier und Jetzt verankert sind. Samstags predigt zB der Sprachkünstler, Beat-Poet und Rapper Saul Williams in der Postgarage.