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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

26. 4. 2009 - 19:13

Verdrehte Augen

Heute geht das Crossing Europe Filmfestival in Linz zu Ende.

Weil ich gerade im Zug sitze, weil ich gerade sehe, wie die Landschaften an mir vorbei ziehen, weil mein Körper sich anfühlt wie ein Luftmatratze, aus der man einiges an Luft ausgelassen hat, weil mein Kopf so angefüllt ist mit Bildern und Geschichten und Gesichtern, weil mein Herz irgendwie seit ein paar Jahren zumindest teilweise für und in Linz schlägt, denke ich noch mal über das Crossing Europe nach.

Aufgerissene Augen

Crossing Europe

Asia Argento macht große Augen im jüngsten Film ihres Vaters Dario: La Terza Madre

Eine unscheinbare, unprätentiöse Schönheit. Filme stehen im Zentrum des Festivals. Aber eben nicht nur: Crossing Europe fährt eine programmatische Linie, hat sich voll und ganz dem jungen, ab und an auch dem jung gebliebenen Autorenfilm verschrieben. Etablierte Regisseure findet man schon auch, in diesem Jahr etwa einen der aufregendsten, bildgewaltigsten Filmemacher aus Russland: Alexey German Jr. Oder die Französin Claire Denis, die mit ihren unkategorisierbaren Gefühlsfilmen die emotionale Gegenwartslandschaft zwischen Selbstzerstörung, Fremdenhass und überbordender Schönheit vermisst wie keine andere, wie kein anderer. Oder der Italiener Dario Argento, dessen Thriller und Horrorfilme literarische und kunstgeschichtliche Einflüsse vermengen mit unbedingtem barockem Inszenierungswillen.

Sprengstoff

Logo Linz 2009 Kulturhauptstadt Europas

Linz09

Crossing Europe ist Teil von Linz09

Solche Leute, solche bekannten Namen braucht das Crossing Europe - nicht nur, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, sondern vor allem, um die ganzen jungen, frischen Talente, die in Linz zu sehen sind, einzubetten in eine breitere paneuropäische Gesinnungsgemeinschaft, die nicht interessiert ist am Aufrechterhalten einer mythischen Konsensidentität, sondern die sich anregen lässt von den Bruchlinien und Erdbeben, von allem, was nicht passt.

Vielleicht war es auch eine programmatische Entscheidung der diesjährigen offiziellen Festivaljury (bestehend unter anderem aus der Filmjournalistin Alexandra Seitz und der Kuratorin Ludmila Cvikova), den Hauptpreis des Festivals an Uzak Ihtimal / Wrong Rosary des türkischen Regisseurs Mahmut Fazil Coskun zu verleihen. Immerhin erzählt er die Geschichte eines Istanbuler Imams, harmoniert daher inhaltlich mit Sebastian Brameshubers diesjährigem Eröffnungsfilm Muezzin, steht aber gleichzeitig für ebenjene junge türkische Regisseurgeneration, die bei Crossing Europe 2009 mit dem Spezialprogramm "Young Turkish Cinema" porträtiert worden ist.

Christine Dollhofer und Mahmut Fazil Coskun

Crossing Europe

Festivalleiterin Christine Dollhofer und der Hauptgewinner Mahmut Fazil Coskun (Uzak Ihtimal)

Zu sehen und zu verstehen war in dem sechs Spielfilme umfassenden Panoptikum vor allem, dass sich das künstlerisch ambitionierte und international ausgerichtete Filmschaffen des Landes (wiewohl die Türkei gesamteuropäisch betrachtet eine der höchsten Quoten an heimischen Filmen in den Kinobesuchsjahresbilanzen aufweist) vor allem orientiert, abreibt und abarbeitet an den Bruchstellen zwischen Tradition und Moderne, zwischen tradierter Moral und Rebellion, zwischen Religion und Alltäglichkeit. Darin ähnelt das türkische Gegenwartskino dem iranischen Kino der Neunziger Jahre, das seine Geschichten bis auf wenige Ausnahmen wie Abbas Kiarostami angeleitet von diesen Konflikten formuliert hat.

Herzmaschine

Eh klar: Crossing Europe hat weder das Budget einer Viennale, noch deren infrastrukturelle Ressourcen noch deren Besucherzahlen. Aber es hat etwas anderes, vielleicht etwas entscheidenderes: Absolute Glaubwürdigkeit. Chefin Christine Dollhofer und ihre Kuratoren bemühen sich, keine Zugeständnisse zu machen; zufällig ins Programm gerutschte Filme gibt es hier nicht. Man wird zu jedem Programmpunkt des Festivals jemanden finden, der diesen geplant und gestaltet oder ausgewählt hat, und der ihn mit aller Kraft verteidigt. Und das ist auch gut so. Denn es stellt sich hier eine Vielsprachigkeit ein, wiewohl die offiziellen Festivalsprachen Deutsch und Englisch sind; eine Vielzahl an Zugängen und Verhandlungswegen: manchmal verkopft und bedeutungsschwer, oft genug aber auch laut, frech und schrill, nicht selten provokant.

Von besonderer Bedeutung für ein Festival wie Crossing Europe ist die Wettbewerbs-Sektion, da die Aussicht auf eine Auszeichnung und der angeschlossene Anschub in der öffentlichen Wahrnehmung gerade für junge Filmemacher reizvoll und anziehend sind. Viele Augen richten sich aber auch auf Tribute-Gäste: Denn wenn man schon die gesamte Filmografie eines noch weniger bekannten Filmemachers, einer Filmemacherin kompiliert und vorstellt, dann muss es darin auch etwas zu entdecken geben. Gerade das lockt dann Talentsucher und andere Festivalmacher nach Linz: Wichtige organisatorische Verbindungsstellen, wichtige Freunde auch für das Crossing Europe.

nackter junger Mann

Crossing Europe

Lionel Baiers "Dummer Junge" war eine der schönsten Entdeckungen des Festivals

Und in diesem Jahr kann man diesbezüglich jedenfalls zufrieden sein: Mit den Welsch-Schweizern Ursula Meier (die gleich ihren aktuellen, mit Isabelle Huppert besetzten Film Home mit gebracht hat) und Lionel Baier rückten zwei Filmemacherinnen ins Zentrum, die zuvor wohl den wenigsten ein Begriff gewesen sein dürften. Meier mit ihren spielwütigen und sehr präzise inszenierten Gesellschaftsvermessungen und Baier mit seinen stark autobiografisch geprägten, von Lüsten, Trieben und Sehnsüchten bestimmten Filmen haben das Crossing Europe 2009 bereichert.

Irgendwie tut es mir Leid, dass es jetzt schon wieder vorbei ist, dass vor meinem Zugfenster das Landgrün vorbeizieht, dass ich dort hinten irgendwo schon die Wiener Stadtschluchten sehen kann, dass jeden die Realität wieder einholt. Und der Himmel ist grau.