Erstellt am: 24. 4. 2009 - 19:22 Uhr
Berliner Handkuss mit Knacks
Mit Humor ist das so eine Sache. Entweder man versteht und liebt ihn, oder man versteht ihn nicht und hasst ihn. Ähnlich verhält es sich mit Ironie, wobei hier ein entscheidender Faktor noch hinzu kommt: Das nicht verstehen wollen.
Schon alleine deshalb stoßen die Berliner Kissogram auf heftige "Kritik", bei denen sich manche Rezensenten sogar zu recht unbeholfen knappen Meldungen hinreissen lassen. Wenn man dazu die erste Single "The Deserter" im Kopf hat - und das hat man zwangsweise nach einmaligem Hören bei derartiger Ohrwurmqualität des lautmalerischen Textes, ich sage nur Ratatata! - ja, dann wird dieses Bashing wirklich unverständlich. Denn das dritte Album "Rubber & Meat" vereinigt dadaistisch angehauchte Poesie mit dreckigen Dance-Beats und einer jenseitigen, lapidaren Plastikpopattitüde. Und das soll jemand den Kissograms erst enimal nachmachen.
Joe Dilworth
Die Disco-Maschinen anwerfen
Ein Schalter wird umgelegt und beklemmendes Rauschen macht sich breit. Rhythmisch schneidet sich ein verzerrtes Registrierkassengeräusch durch den akustischen Nebel, bis Schlagzeugsticks aneinander geklopft werden. Und schon stimmt Jonas Poppe seinen "Blablabla"-Sprechgesang an, der einer gelangweilten Coolness von Julian Casablancas um Nichts nachsteht.
Nach einer Minute ertappt man sich dabei, das schon erwähnte "Ratatata!" mit den Lippen unbewusst mitzuformen. Eigentlich grenzt "The Deserter" fast schon an eine Unverschämtheit, die sich ähnlich einem gewitzten Werbejingle unmerklich tief in den auditiven Cortex frisst.
Trotz all dieser Popformatauflagen vermittelt der Track neben seiner Tanzbarkeit eine gewisse Düsternis, die sich auch bei dem langsameren Elektroschunkelstück "Tonight I'll Go Out Alone" breit macht. Schräge Synthieakkorde werden ohne Rücksicht auf Geschmeidigkeitsverluste in die Tastatur gehackt, wobei eine schräg eiernde Glöckchenmelodie das alte Munsters-Feeling vermittelt. Oder sind das doch einfach gefilterte Krankenwagensirenen?
Pop in der Fleischfabrik
Kissogram
Die zwei Musiker Jonas Poppe und Sebastian Dasse lieben doppelte Böden. Sowohl musikalisch als auch textlich-assoziativ. Der Albumtitel "Rubber & Meat" zum Beispiel könnte durchaus schlüpfrige Assoziationen wecken. Jedoch weit gefehlt, geht es in dem Titelstück doch um eine Frau, die im tristen Fließbandalltag einer Fleischfabrik gefangen ist. Diese furchtbare Vorstellung wird noch dazu mit derartig fröhlichen Beats und Keyboardmelodien auf den Tanzboden transformiert, dass sich bei jedem Discoschritt der Ausbeutungsteufel ins Fäustchen lacht. Eine kluge Hedonismusfalle.
Selbst im Song "Prominent Man", der mit seiner kindlichen Melodica-Linie, dem stampfenden Beat und dem wundervoll dreckigen Gitarrengeschrammel Unbeschwertheit suggeriert, propagieren Kissogram, lieber tot als berühmt zu sein.
Kissogram in Österreich
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Beeing Jonas Poppe
Ob dreimal soviel wirklich auch dreimal so gut ist, stellen die Berliner mit "Grass Grass Grass" in Frage. Über einen simplen Drumloop inklusive quietschendem Spezialeffekt wird ein Kinderlied-ähnlicher Text Wort für Wort verdreifacht, bis über die Geschichte eines toten Hundes wieder Gras, Gras, Gras gewachsen ist. Dass hier nach zweieinhalb Minuten unsere Hörgewohnheiten schon strapaziert sind, versteht sich von selbst. Auch "Lucy" und vor allem das skurrile "Bucharest", mit dem auch der Ost-Hype sein Fett abkriegt, zerren in ihrer elektronischen Disco-Trash-Radikalität an den Harmonienerven.
Joe Dilworth
Doch das alles scheint zum Konzept zu gehören. Denn die Songs, die uns Kissogram gegen Ende der Platte servieren, frönen entspannt dem unterkühltem Discopop. So schlüpfen wir als Highlight in den Kopf von Sänger Jonas Poppe, wenn er sich mit einer Frau in den "Backseat Of My Mind" zurückzieht. Und zum Abschluss werden wir noch mit Beatles-esken Flötentönen der schleichenden Elektroballade "Don't Look At Me Like This" alleine und verwirrt am Dancefloor stehen gelassen. Denn wer sich bis dahin nicht einen Partner gesucht hat, der wird in der Dunkelheit dieser Nacht keinen mehr finden.
Küssen und küssen lassen
Das Duo hat sich für sein drittes Werk nicht nur von der songschreiberischen Muse küssen lassen, sondern mit dem schwedischen Produzenten Pelle Gunnerfeldt den richtigen Mann für den richtigen Sound an Bord geholt. Nicht zu vergessen, dass Kissogram heute eigentlich ein Trio sind. Der Ex-Stereolab und Add N To X Schlagzeuger gibt dem neuen Album den gehörigen Drive, wobei sich die organischen Drums kunstvoll mit den digitalen Loops vernmischen. Schon alleine deshalb sollte man sich eine Live-Show von Kissogram nicht entgehen lassen.