Erstellt am: 22. 4. 2009 - 10:38 Uhr
"Mich interessieren schwer zugängliche Orte"
Geschätzte 30 Prozent der Bewohner von Rio de Janeiro leben in einer Favela. Viele ihrer - am Asphalt lebenden - Mitmenschen haben noch nie eine Favela betreten oder vermeiden es tunlichst. Warum auch? Die Bilder, die von den Medien gezeigt werden, sind sich permanent wiederholende Klischees von Gewalt und Chaos. Eigentlich würde die Antwort auf das "warum auch" auf der Hand liegen. Die Menschen, die gezwungen sind, in diesen informellen Siedlungen zu leben, sind Teil der Gesellschaft. Ihre Realität zu kennen, die Lebensbedingungen, die ihnen zugemutet werden, sollte Bestandteil der sozialen Kompetenz jedes Einzelnen sein.
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andre cypriano
Der Fotograf Andre Cypriano widmet sich in seinem Werk einer uninszenierten Dokumentation des Favela-Alltags. Von Dummheiten, a la "die Menschen sind zwar arm aber sie können immer noch so glücklich lächeln, weil sie haben ja die Musik, die Sonne was auch immer", die man oft von Touristen hört, die sich in Jeeps durch die Gemeinden der Südzone karren lassen, um authentische Armut fotografieren zu können, sind seine Bilderwelten weit entfernt.
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andre cypriano
"Mich interessieren die unbekannten Orte, Plätze die schwer zugänglich sind und so wird meine Arbeit auch zum Teil der Geschichte dieser Orte", meint Andre Cypriano im Interview.
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andre cypriano
Von Andre Cypriano unter anderen bereits erschienen: "O Caldeirao do Diabo" (Editora Cosac & naify) und "Rocinha" (Editora Senac)
Die Orte, die Cypriano besucht, sind nicht im geografischen sondern im solzialen Sinne weit entfernt. Sein erstes Buch "Caldeirão do Diabo" besteht aus Fotografien, die er 1993 in dem berüchtigten Gefängnis Candido Mendes auf Ilha Grande geschossen hat. In diesem Gefängnis ist das Comando Vermelho entstanden, welches heute die größte kriminelle Organisation von Rio ist und zahlreiche Favelas kontrolliert. Im Interview erzählt mir Andre Cypriano wie er auf die Idee kam das Leben im Gefängnis zu dokumentieren.
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andre cypriano
"Ich surfe. Als ich jünger war, surfte ich oft in der Nähe des Gefängnis. Eines Tages sah ich, wie ein Helikopter flüchtende Gefangene mit einem Netz aus dem Meer fischte. Dadurch wurde das Gefängnis, von dem ich immer schon wusste, dass es existiert, plötzlich real für mich. Der Ort hatte den Ruf, die Hölle auf Erden zu sein. Ich wollte wissen, wie Menschen in dieser Hölle überleben können. Und du weißt, das Comando Vermelho ist in diesem Gefängnis entstanden. Zur Zeit der Diktatur haben die Behörden politische Gefangene und Verbrecher gemeinsam inhaftiert. Die politischen Gefangenen lernten ihren Mitinsassen wie man sich organisiert, wie man Gruppen und effiziente Organisationen bildet."
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"Dieses Wissen nahmen die Kriminellen aus dem Gefängnis mit. Zum Beispiel haben sie gelernt, dass es effizient ist, an mehreren Punkten gleichzeitig zuzuschlagen, nicht einen sondern fünf Überfälle gleichzeitig zu begehen. Sie haben in weiterer Folge ihr Betätigungsfeld auf Entführungen erweitert und heute kontrollieren sie den Drogenhandel in Rio. Andere kriminelle Organisationen wie Amigos dos Amigos und Terçeiro Comando haben sich abgespalten und liegen heute mit Comando Vermelho im Krieg. Ein soziales Krebsgeschwür ist in diesem Gefängnis erschaffen worden", erzählt Cypriano.
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andre cypriano
Andre Cypriano hat im Gefängnis eine der ersten Generationen der Comando Vermelho Führung fotografiert. Durch diese Kontakte bekam er in den darauf folgenden Jahren die Möglichkeit, in Favelas zu fotografieren. Die Bilder sind in dem Buch "Favelas, A Cultura da Cidade Informal" publiziert. Rocinha, der größten Favela Lateinamerikas, hat er einen eigenen Bildband gewidmet.
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andre cypriano
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andre cypriano
Rocinha hat zwischen 250 000 and 300 000 Einwohner. Gerüchteweise besteht der Kern der ausgebildeten Soldaten aus 500 Personen erzählt Andre Cypriano, viele 13-, 14-jährige Teenager sind als Wachen oder Boten tätig.
"Für sie hege ich keine großen Hoffnungen. Sie sind so in dem Kreislauf der Gewalt integriert und außerdem sind sie fanatische Anhänger der Organisation. Es ist sehr schwierig ihr Leben zu ändern.In meinem Buch über Rocinha habe ich nur ein Bild mit einer Waffe. Ein neunjähriger Junge hält sie. Ich glaube, dort müssen unsere Bemühungen ansetzten. Bei den Jüngsten. Ich habe überhaupt kein Licht am Ende des Tunnels gesehen, aber jetzt sehe ich einen Lichtstrahl. Es sind die NGOs. Es gibt über tausend NGOs in Rocinha und die Entwicklungen in dieser Favela haben oft Vorbildfunktion. Wenn wir auf Aktionen von Seite der Regierung warten dann sind wir verloren, aber die NGOs sind ein Hoffnungsstrahl."