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Andreas Gstettner-Brugger

Vertieft sich gern in elektronische Popmusik, Indiegeschrammel, gute Bücher und österreichische Musik.

19. 4. 2009 - 14:00

Nikolski

Nicolas Dickners fantastischer Debütroman voller Piraten, Müllarcheologen, Fischen, Meeresrauschen und unsichtbarer Familienbanden.

Wieviel Platz braucht man wohl für dreißig Jahre eines Lebens?

Dreißig Müllsäcke.

Aus revolutionärem, reißfesten Ultra-Plastik. Bei einem Fassungsvolumen von 60 Litern pro Sack ergibt das ein Gesamtvolumen von 1800 Litern.

Das ist zumindest die Erfahrung von Nicolas Dickners namenlosen Erzähler, der das Hab und Gut seiner kürzlich verstorbenen Mutter zusammenpackt. Was als unangenehme Pflicht beginnt, entwickelt sich in kürzester Zeit zu einem fieberhaften Erforschen der Vergangenheit. Neben unleserlichen Postkarten ist ein alter fünf Dollar Kompass die einzige Verbindung zu seinem ihm unbekannten Vater. Einzig dieses Geschenk, der Kompass, ist der Beweis für die Existenz eines ruhelosen Seemanns namens Jonas Doucet.

Im Gegensatz zum Autor selbst ist Dickners Erzähler nie über die Grenzen Montreals hinausgekommen. In einer alten, verstaubten Second Hand Buchhandlung fristet er sein Dasein mit Tagträumereien. Doch der wiedergefundene Kompass ist das erste Rätsel in einer Reihe von seltsamen Ereignissen, die den jungen Buchladenhüter aus dem Alltag reißen. Denn die Nadel zeigt nicht nach Norden, sondern weist stur den Weg zum 34 Grad westlicher gelegenen Nikolski, einem winzigen Dorf auf einer ebenso winzigen Insel der Aleuten. Ein Punkt, der auf die Familiengeschichte des Erzählers zu deuten scheint.

Noah und das dreiköpfige Buch

Tausende Kilometer entfernt, in einem kleinen Winkel von Kanada, wächst der junge Noah allein mit seiner Mutter in einem Wohnwagen auf. Sie ist eine Indianerin, die von ihrem Stamm verstoßen wurde und fortan wie eine Nomadin durchs Land zieht. Noah, der das Lesen anhand von Straßenkarten erlernt, erhält an den verschiedensten Postämtern immer wieder eine Karte von seinem ihm unbekannten Vater. Dem Matrosen Jonas Doucet, den es an keinem Ort lange hält.

Die Korrespondenz zwischen Noahs Eltern basiert auf Glück und Intuition, indem nach Gefühl verschiedene Postadressen angeschrieben werden, bei denen der jeweils andere vorbeikommen könnte. Die doch recht hohe Trefferquote dieser Kommunikation reißt plötzlich ab und Noah macht sich auf nach Montreal, um die Spuren seines Vaters zu verfolgen. Das einzige, was ihm seine Mutter mitgibt, ist ein "dreiköpfiges" Buch, das auf geheimnisvoller Weise mit seiner Herkunft verbunden ist.

Die Piratenbraut

Die junge Joyce Doucet ist anders. Sie passt nirgendwo so richtig hinein. Weder in die Schule des kleinen Dorfs Tete-a-la-Blaine, noch in ihre nähere Familie. Nach dem Tod ihrer Mutter flieht sie vor ihren inquisitorischen Tanten, hänselnden Cousins und dem polternden Onkel und verbringt ihre ganze Freizeit in einem klapprigen Holzhaus bei ihrem Großvater. Er ist ein Nachkomme einer berühmt berüchtigten Familie von Piraten und Seeräubern und füttert Joyce mit teils wahren, teils erfundenen Abenteuergeschichten.

Nach dem letzten Schultag schleicht sich Joyce Mitten in der Nacht aus dem Dorf und trampt nach Montreal. Zwischen dem Filetieren von Fischen zimmert sie sich geheime Identitäten und beginnt ihrem Stammbaum folgend ein Piratenleben in der digitalen Welt.

Zehn Jahre auf dreihundert Seiten

Nicolas Dickner, Frankfurter Verlagsanstalt

Nicolas Dickners Roman "Nikolski" ist bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen. Aus dem Französischen von Andreas Jandl.

In phantasievoller, poetischer und präziser Sprache wechselt der kanadische Autor Nicolas Dickner permanent zwischen den Lebensgeschichten dieser drei Figuren. Was zu Beginn recht kryptisch erscheint, verdichtet und verstrickt sich im Laufe der Erzählungen immer mehr. Denn allen gemeinsam ist eine familiäre Verbindung, die unwissentlich ihre Entscheidungen zu lenken scheint. Sie sind Außenseiter und Identitätssuchende, hin und her gewirbelt in einem Sturm von zufälligen Begegnungen und unabsichtlichen Kettenreaktionen, getrieben von einer inneren Ruhelosigkeit.

Dickner setzt Metaphern des Meeres, der Fischerei und der Seemänner perfekt als roten Faden ein. Kunstvoll statt künstlich entwirft er ein dicht geflochtenes Netz aus Geschichten, die sich vom erzählerischen Stammbaum der drei Hauptfiguren weiter verästeln. Nicht alle werden zu Ende geführt, nicht alle werden aufgelöst. Und so kreiert der Kanadier in einer Erzählspanne von zehn Jahren auf den dreihundert Seiten seines Debüts eine magische, märchenhafte, geheimnisvolle und zugleich tief menschliche Welt. Zurück bleibt ein wohliges Gefühl, trunken vom Geruch des Meeres, schaukelnd zwischen Wellen zufriedener Bereicherung und dem Dürsten nach einer Fortsetzung.