Erstellt am: 15. 4. 2009 - 22:49 Uhr
Auf der Straße in Budapest
Mari Lang lebt derzeit in Budapest, wo sie beim ungarischen Radiosender Magyar Rádió 1/Kossuth Rádió im Rahmen eines Journalistenstipendiums arbeitet. Sie wird in den nächsten Wochen an dieser Stelle von ungarischen Alltagsbeobachtungen erzählen.
Seit drei Wochen lerne ich in Budapest wie man Verben konjugiert und wie man Wörter richtig ausspricht. "Tüntetés" zum Beispiel – die Demonstration. Das "ü" ist kurz, das "é" lang. Was einfach klingt, erweist sich als höchst kompliziert. Genauso wie die Realitäten bei der gestrigen Anti-Regierungs-Demo und die ungarische Politik an sich.
Mehrere tausend Menschen haben sich am frühen Nachmittag am Kossuth Lajos Platz vor dem Parlament versammelt, um gegen die Wahl des bisherigen parteilosen Wirtschaftsministers Gordon Bajnai zum neuen Ministerpräsidenten zu demonstrieren. Familien mit Kindern, alte Menschen und Menschen in schwarzen Uniformen – die 2007 gegründete paramilitärische Organisation "Magyar Gárda" (Ungarische Garde).
Mari Lang
Bestückt sind sie mit rot-weiß-grünen Fahnen, T-Shirts, auf denen Großungarn abgebildet ist und kalten Getränken. Immer wieder sind Sprechchöre mit den Worten "Nieder mit der Regierung!" und nicht jugendfreies Geschimpfe zu hören. Zwar sind nicht alle Teilnehmer aggressiv, aber geeint in ihrer Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen.
Mari Lang
Péter ist einer, der gemäßigt demonstriert. Er ist 25, hat kurze schwarze Haare und einen energischen Blick. Er studiert Mathematik in Budapest und geht regelmäßig auf Anti-Regierungs-Demos, "weil es wichtig ist, dass man für seine Anliegen auf die Straße geht". Nationalist sei er aber keiner, sagt er mit ruhiger Stimme. Doch einer, der an sein Heimatland glaubt und im Gegensatz zu vielen anderen in seinem Alter nicht weg will. "Wir brauchen eine neue Regierung, damit die Menschen wieder Hoffnung bekommen und Glauben an die Politik. "
Seit Ende 2006 hat sich die politische Lage in Ungarn zugespitzt. Damals kam die mittlerweile legendäre "Lügenrede" des Ex-Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány von der Ungarischen Sozialistischen Partei MSZP an die Öffentlichkeit. Er gab darin zu, im vorangegangenen Wahlkampf über die missliche Wirtschaftslage des Landes gelogen zu haben. Eine Protestwelle der konservativen Oppositionspartei FIDESZ (Ungarischer Bürgerbund) folgte, längst hinfällige Reformen, wie etwa im Gesundheitswesen scheiterten, die Koalition mit der liberalen SZDSZ (Bund Freier Demokraten) platzte. Seit März 2008 regieren die Sozialisten alleine und sind aufgrund fehlender Mehrheit im Parlament oftmals handlungsunfähig. Mit einer neuen Ministerriege soll sich das nun ändern. Während die Budapester ihrem Unmut vor dem Parlament Luft machen, wird hinter den prunkvollen Fenstern des Regierungsgebäudes ein Misstrauensantrag der Sozialisten gegen ihren Parteichef Gyurcsány ausgesprochen und der Geschäftsmann Gordon Bajnai als neuer Ministerpräsident angelobt. Ein taktischer Schachzug der MSZP, denn laut Umfragen wären Neuwahlen für die Partei ein Debakel.
Mari Lang
Dass die spürbare Wut vieler Demonstranten aber nicht erst während der politischen Krise der letzten Jahre entstanden ist, wird klar, sobald man nachfragt. Die Vergangenheit hat tiefe Spuren gezogen und Wunden hinterlassen. "Die Politiker sind alle korrupt und wirtschaften in ihre eigene Tasche, diese verdammten Kommunisten," schimpft eine ältere Dame, die eine kleine ungarische Fahne mit einem Loch in der Mitte schwingt. Beim Ungarnaufstand 1956 wurde das Loch zum Symbol für den Widerstand gegen den Kommunismus und ist auch heute immer wieder auf Flaggen zu finden. Plötzlich taucht eine junge Deutsche am Straßenrand auf, streckt ihre Faust in die Luft und schreit auf deutsch: "Ihr seid doch alle Faschisten." Ein muskelbepackter Glatzkopf stürmt auf sie zu und droht sie zu schlagen. Wären rundherum nicht so viele bewaffnete Polizisten hätte er es vermutlich auch getan. "Diese Jüdin soll hier verschwinden und dorthin gehen wo sie hingehört," raunt ein ergrauter Herr neben mir. Kommunisten und Juden, so scheint es, sind die großen Feinde der ungarischen Rechten. Derer, die die Zeit des Nationalsozialismus und des nahtlos darauffolgenden Kommunismus nicht aufgearbeitet haben. Und das sind offenbar nicht wenige. Sie alle brauchen Sündenböcke und Symbole. Das Großungarische Reich ist eines davon.
Mari Lang
Auf Fahnen, T-Shirts, Gürtelschnallen - überall prangt Ungarn in der Größe von 1918, vor dem Friedensvertrag von Trianon, durch den das Land zwei Drittel seines Territoriums verlor. Auch auf dem Pullover von Gustave ist Ungarn in alter Größe aufgemalt. Gustave ist Mitte Zwanzig, Franzose und sitzt jeden Tag mit mir im Ungarischkurs. Zufällig treffe ich ihn mit seiner Freundin auf der Demo. Sie ist Ungarin und hat Verwandte in Siebenbürgen, dem Teil Rumäniens, in dem die meisten Auslandsungarn leben. Gustave will ihnen zu mehr Autonomie verhelfen, organisiert kleine Demos und verteilt Flugblätter. Viele der Demonstranten, die vor dem Parlament versammelt sind, kennt er persönlich. Die Frau, die alte ungarische Wappen verkauft, die Gruppe junger Männer in Lederjacken vom Motorradclub "Goj" (die hebräische Bezeichnung für Nichtjuden), der für die Wahrung ungarischer Werte eintritt und den jungen Gardisten in seiner schwarz-weißen Kluft und den schweren Stiefeln.
Warum Gustave als Franzose nationalistische ungarische Gruppierungen unterstützt, wollte er mir nicht verraten. Er ist höflich, witzig und hilfsbereit. Aber Menschen, wie Gustave und seine Freunde der rechtsextremen ungarischen Szene machen mich stutzig. Ich kann nicht verstehen, warum sie die junge Deutsche, die bei der Demo lauthals "Nazis raus" ruft, verprügeln wollen, warum sie Polizisten mit Steinen bewerfen und einen Strick in die Luft halten, um symbolisch den designierten Ministerpräsidenten Bajnai zu erhängen. Ich kann es in meinem Weltbild nicht einordnen. Dort gibt es sowas wie Geschichtsaufarbeitung, den Wunsch mit Minderheiten friedlich zusammenzuleben, Gespräche zu führen statt die Fäuste sprechen zu lassen. Dort gibt es ein Miteinander.
Während ich nach Sonnenuntergang gedankenverloren nach Hause spaziere, sind am Kossuth Lajos Platz beim Parlament immer noch hunderte Demonstranten versammelt. Eine EU-Fahne brennt, Tränengas wird von der Polizei eingesetzt und Menschen werden verletzt. "Das wird jetzt wahrscheinlich ein Jahr lang so weitergehen. Bis zu den Neuwahlen im Frühjahr 2010", sagt meine ungarische Mitbewohnerin Nóra, als ich ihr von meinen Erlebnissen erzähle. Ich habe plötzlich Kopfweh und muss an meine Ungarischlehrerin denken, die mir jedes Mal, wenn ich über einer Grammatikübung verzweifle, sagt: "Ungarisch ist keine schwere Sprache. Sie ist nur anders." Wie ein Mantra betet sie mir diesen Satz vor. Und wie ist es mit der ungarischen Politik? In den nächsten Monaten werde ich versuchen Antworten zu finden.