Erstellt am: 15. 4. 2009 - 13:51 Uhr
Journal '09: 15.4.
Der FC Liverpool hatte um Verlegung angesucht um nicht heute spielen zu müssen, und die Auslosung wurde dementsprechend durchgeführt - ohne bürokratisches Murren.
Heute wär's nicht gegangen, heute lebt ganz Liverpool wieder unter einer kollektiven Glocke von Trauer und Lähmung, wie an jedem Jahrestag von Hillsborough.
Die 96 Toten vor genau 20 Jahren beim englischen Cup-Semifinale zwischen Liverpool und Nottingham Forest, das - wie es die Tradition befiehlt - auf neutralem Boden stattfand, eben im Stadion von Hillsborough, dem Homeground von Sheffield Wednesday, haben den Fußball von grundauf verändert, etwa im Ausmaß des Bosman-Urteils. Weil danach, nach der Panik, der Stampede, der Zutodetrampelung im eingezäunten Sektor die Stadionsicherheit zuerst englandweit, dann weltweit verbessert wurde, und zwar gewaltig.
Der Einschnitt
Was aber womöglich bedeutsamer ist: die Katastrophe hat so traumatisch tief ins Leben einer Stadt, einer Region eingegriffen, wie kaum ein anderes Einzelereignis in der jüngeren Geschichte.
Das lässt sich jemandem, der den englischen Lebensalltag nicht kennt, schwer begreiflich machen. Wenn man, so wie ich, als mit der Stadt, Kultur und natürlich auch dem Fußball sympathisierenden Außenstehender, Dokus oder kurze Ausschnitte, kleine Berichte über Menschen, die Augenzeugen waren, sieht, wirkt die absolute, unveränderbare und auch durch den Lauf der Zeit nicht beeindruckbare Betroffenheit der Menschen doch ein wenig verstörend; und irgendwie nicht so recht nachvollziehbar.
Ein paar Jahre davor 1985, bei der Katstrophe im Heysel-Stadion, anläßlich des Meistercup-Finales (zwischen Liverpool und Juventus) war ähnliches passiert, und man hatte Liverpooler Hools die Schuld gegeben, wiewohl der Auslöser eine illegale Kartenvergabe durch korrupte Offizielle war, die Juve und Liverpool-Fans im selben Sektor zusammenführte. Alle englischen Vereine wurden für fünf Jahre aus dem Europacup verbannt, Liverpool gar für sieben.
Unter dieser Prämisse kam Hillsborough hierzulande an: verrückte englische Fans trampeln sich gegenseitig nieder.
Cracker
Wirklich verstanden, was da alles abgelaufen ist, hab ich alles erst Jahre später. Und daran ist Robert Carlyle schuld.
Carlyle ist der völlig enthemmte Mörder hinter dem Robbie Coltrane in seiner Rolle als Fitz her ist, in
Carlyle ist ein Opfer von Hillsborough, einer der nicht nur dabei war, sondern dabei auch Familienangehörige verloren hat und dadurch innerlich verlöscht ist. Natürlich ist Robert Carlyle das alles nicht, er stellt es dar. Aber seine Intensität ist derart akkurat, dass ich ihn immer vor mir sehe, wie er als Geist, als pure Hülle, durch die Straßen trottet, wenn von Hillsborough die Rede ist; wenn ich einen ähnlich verlöschten Liverpooler in einer Doku über das Drama reden sehe.
Dank Carlyle bin ich reingesogen worden in die Geschichte der Katastrophe, auch weil in dieser, der 4. Episode von Crackers sehr ausführlich auf die grausigen Begleitumstände eingegangen wird, auf die entsetzlich falschen Handlungen der Polizei vorort, auf die Versuche das Versagen zu vertuschen, auf die wiederwärtige Rolle der Medien, vor allem des Boulevards, vor allem der Sun (die unter anderem die Lüge verbreitete, dass Liverpool-Fans auf Tote gepisst hätten).
To Be A Somebody
Ein paar Youtube-Eindrücke von Cracker - To be a somebody, das man dort in Portionen, aber zur Gänze nachsehen kann: der Beginn, der erste Mord, die preisgekrönte Szene mit Christopher Eccleston als junger Chief Inspector Bilborough und das Finale
Natürlich ist "To Be A Somebody" eine weit überhöhte Mords-Geschichte. Natürlich ist es unlikely, dass einer der traumatisierten Opfer sich Jahre später an seiner gesamten Umwelt rächt, und vor allem am Boulevard und Polizisten rächt - aber darum geht es in dieser Geschichte (wie in allen gut erzählten Krimis) nicht, da transzendiert etwas. Und Robert Carlyle ist der Träger dieser Geschichte, einer der es schafft, den sonst alles mit der wuchtigen Präsenz seiner Figur an die Wand nagelnden Fitz/Coltrane, auszustechen.
Carlyle/Kinsellas Darstellung des Erlöschenen, der 96 Zündhölzer vor seinem Spiegel aufgestellt hat und nach jedem Mord eines anzündet, ist nie denunzierend, rechtfertigt und verharmlost aber auch nicht. Er holt die geistgleiche Ohnmacht, mit der die Beteiligten das Massaker, vor allem aber die Nachbereitung erlebt haben, ins Bewußtsein. Die Ohnmacht nach den Polizei-Lügen, nach der Boulevard-Verhöhnung (die nach Heysel auf fruchtbaren Boden fielen), die Schuldgefühle nichts tun zu können, den Ausschluß aus der Gesellschaft. Und er zeigt, dass die unglaubliche Solidarität in der gesamten Stadt Liverpool (wo die Sun seither, und immer noch, nicht gut verkauft) und vor allem im Umfeld des Vereins, dessen Supporter ihr rituelles "You'll never walk alone" seither mit mehr Wahrhaftigkeit als je zuvor absingen, nicht genug ist, um den Einzelnen aus der Spalten rauszuziehen, in die sie geraten sind.
You'll never walk alone
Robert Carlyle hat dann später in Trainspotting den Begbie gespielt, war auch in einem sehr guten Film über den frühen Hitler in der Titelrolle brilliant. Zuletzt war er in 28 Weeks Later, demnächst wird er in "24" zu sehen sein.
Die Carlyle-Figur ist völlig abgestürzt und entfremdet, nach dem Tod des Vaters, nach dem Scheitern der Ehe und wird durch eine kleine Alltags-Gemeinheit in einen Strudel of no return gesogen, der im Mord am jungen Chef-Inspektor kulminiert, einer der Hauptfiguren der Serie (auch ein unerhörter Bruch von Seher-Gewohnheiten, ein regelrechter Schock), in einer der heftigsten Szenen der englischen TV-Geschichte.
Das alles seh ich vor mir, wenn ich das Stichwort Hillsborough höre - und es ist einer der Momente, wo ich der Fiction dankbar bin, dass sie mich mit emotional erklärenden Eindrücken versorgt, wo ich (wie die meisten anderen wohl) mit rein dokumentarischen Ansätzen unterfordert bin.