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Elisabeth Gollackner

Subjektivitäten, Identitäten und andere feine Unterschiede.

22. 4. 2009 - 08:00

Apostoloff

In die hintere Reihe setzt man sich immer aus einem gewissen Grund. Im Schulbus ist es Aufmüpfigkeit, im Kino hat man vermutlich Dinge vor, die niemand sehen soll. Und im Falle von Sibylle Lewitscharoff ist es eine Mischung aus beiden.

Durch Bulgarien geht die Reise, und die Rückbank, das ist die eines klapprigen Daihatsus. Die eine Schwester nimmt darauf Platz – sie ist die jüngere, bissig und menschenverachtend, ohne Pause stänkernd, das genaue Gegenteil der älteren Schwester, die freundlich und gesprächig am Beifahrersitz Platz genommen hat, um dem Fahrer Gesellschaft zu leisten. Bulgarien ist die Heimat des vor Jahren verstorbenen Vaters der beiden. Und ein Freund der Familie, der Bulgare Rumen Apostoloff, hat sich angeboten, die beide Damen aus Deutschland zu kutschieren.

"Rumen Apostoloff möchte uns die Schätze Bulgariens zeigen. Meine Schwester und ich wissen es besser: solche Schätze existieren nur in den bulgarischen Hirnen. Wir sind überzeugt, Bulgarien ist ein grauenhaftes Land – nein, weniger dramatisch: ein albernes und schlimmes."

Ab in die Vergangenheit

Sibylle Lewitscharoff
"Apostoloff"
Suhrkamp Verlag 2009

Coverbild des Romans "Apostoloff". Eine Collage aus Heililgenbildern, Wörtern und Blättern.

suhrkamp

Zumindest für die Dame am Rücksitz gilt: Sie hasst dieses Land, obwohl sie es nicht kennt. Der Grund ist einfach: Sie hasst ihren Vater, vor allem deshalb, weil er sich vor Jahren erhängt hat, die zermürbende Zeit der Schwermütigkeit miteingerechnet, kurz: Weil er ihr einen recht unangenehmen Start ins Erwachsenenleben beschert hat.

Und abgesehen von den immer wiederkehrenden Träumen, in denen der Vater (samt Strick um den Hals) auftaucht und weise Ratschläge gibt, abgesehen davon wäre das alles schon begraben und vergessen – da organisiert ein ehemaliger Freund des Vaters diesen Leichentransport, um alle seine verstorbenen Exil-Bulgaren-Freunde auf den heimatlichen Friedhof zurückzubringen.

Die Schwestern begleiten den Transport von Stuttgart nach Sofia – und wenn man schon mal da sei, könne man sich doch auch gleich den Rest ansehen. Deshalb sitzen die beiden also im Auto. Die Begeisterung hält sich in Grenzen:

"Schwarzmeerküste, das klingt doch nach Meeresrauschen, Möwen, Dünen, nach Strandcafés, dümpelnden Brötchen, klickenden Jachtmasten, und etwas weiter weg, schon gar nicht mehr in Bulgarien, nach Ovid? Ach was. Verbaut, verpatzt, verdreckt. Das aschgraue Meer – leergefischt. Das bulgarische Essen? Ein in schlechtem Öl ersoffener Matsch. Der Fisch ein verkokelter Witzfisch. Bulgarische Kunst im zwanzigsten Jahrhundert? Abscheulich, und zwar ohne jede Ausnahme. Die Architektur, sofern nicht Klöster, Moscheen oder Handelshäuser aus dem neunzehnten Jahrhundert? Ein Verbrechen!"

In "Apostoloff" steckt sehr viel Autobiografisches: Lewitscharoff ist selbst Tochter eines Exil-Bulgaren. Für die rabenschwarze Abrechnung mit dem Land ihrer Vorfahren hat sie den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen.

Die Autorin Sibylle Lewitscharoff reibt sich an Gegensätzen. Da sind die beiden Schwestern: Unterschiedlich wie Tag und Nacht und gerade deshalb ein so gutes Team. Oder die Vorurteile gegen Bulgarien, die eigentlich den Vater meinen und vom Land nicht immer eingehalten werden können. Dazwischen setzt sie Apostoloff, den Fahrer, der sprichwörtlich Bewegung in die Vergangenheitsbewältigung bringen soll.

Pompös und teilweise grotesk sind die Gedankengänge, in denen die Autorin ihre Hauptfigur schwelgen lässt; die Sprache überbordend und verschnörkelt, wie ein Reliquienschrein aus Wörtern. Immer wieder bedient sich Lewitscharoff mystischer und religiöser Metaphern – eingebettet in diese herrlich zynische Schimpftirade der Dame am Rücksitz.

Sie möchten Bulgarien kennenlernen? Sibylle Lewitscharoff nimmt Sie an der Hand: Die beißend komische Abrechnung einer trotzigen, wenn auch schon 50-jährigen Tochter, die nicht so schnell klein beigibt, macht große Lust darauf, sich das ganze mal selber anzusehen. Vielleicht sogar von der Vorderbank aus.

Tipp: Noch mehr Bulgarien zum Lesen

  • Roumen M. Evert - "Die Immigrantin", Dittrich Verlag, 2009

"Es gibt viele Romane über Emigration, dieser vermittelt eine neue Sicht", schreibt die Schriftstellerin Maria Stankowa, "Mit tiefem Einfühlungsvermögen versteht es der Autor, mit der Stimme einer Bulgarin zu sprechen, die gezwungen war, die Heimat zu verlassen."

  • Vladimir Zarev - "Familienbrand", Deuticke Verlag, 2009

Ein Epos des 20. Jahrhunderts, geschrieben von einem der wichtigsten Autoren Bulgariens. Es erzählt vom Leben der Familie Weltschev in Widin, einer verschlafenen Kleinstadt am Unterlauf der Donau.
"Wundersame Sätze sind das, die einen jung und mächtig und leidenschaftlich, aber auch weise, zärtlich und gut machen können." (Dimitré Dinev)