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Robert Glashüttner

Videospielkultur, digital geprägte Lebenswelten.

4. 4. 2009 - 08:18

"Wir sind alle Presse"

Bei der "re:publica '09", einer dreitägigen Neue Medien-Konferenz, lädt sich die deutsche Blogger-Szene ihre Helden nach Berlin ein und feiert sich kräftig selbst.

"Ich glaube, dann wirst du in Berlin eine harte Zeit haben", stachelt mich Freund M. Ende vergangenen Jahres verschwörerisch an, als ich mich vom grassierenden Micro-Blogging-Hype unbeeindruckt zeige. "Wie willst du dich hier verabreden ohne Twitter, News mitbekommen usw.?"

M. ist zwar selbst erst vor eineinhalb Jahren in die deutsche Großstadt gezogen, weiß aber aus eigener Erfahrung, wovon er spricht. Berlin bloggt, und das nicht erst seit der 140-Zeichen-Bewegung. Die Aushängeschilder der deutschen Szene existieren bereits seit Anfang der Nullerjahre: Spreeblick, Riesenmaschine, Netzpolitik.org. Seit einiger Zeit ziehen die Köpfe dahinter auch an einem gemeinsamen Strang, um die Aufmerksamkeit des regen Publizierens im Web weiter zu erhöhen. Die "re:publica" ist im Frühjahr 2007 als Blogger- und Neue Medien-Konferenz angetreten, einen Überblick über die Identität der Szene zu bieten und ihre wesentlichen Themen zu gliedern: Demokratisierung des Journalismus, Arbeiten in einer vernetzten Welt, Neustrukturierung von Wissen und Urheberrecht.

Besucher der Neue Medien-Konferenz "re:publica" in Berlin

Robert Glashüttner

Befindlichkeits-Boogie

Zwei Jahre später hat sich der Ruf und der Facettenreichtum der Blogosphäre dennoch nur mäßig verbessert. Obwohl der vielbeschworene neue Bürgerjournalismus in Einzelfällen beachtsame Blüten treibt und sich TV News-Anchormen in informativen Tweets üben, überwiegt in Presse und öffentlicher Wahrnehmung das Befindlichkeits-Blogging. Vornehmlich werden jeden Tag Millionen Antworten auf die verlockende Frage "What are you doing?" geschrieben, deren Relevanz überschaubar ist.

Die Enttäuschung vorweg: Die "re:publica" kann dieses Vorurteil nur punktuell entkräften. In einigen Fällen wird es stattdessen geradezu heftigst bestätigt - etwa, wenn sich die Berliner Blogger-Incrowd in Selbstreferenzialität verliert und sich schulterklopfend ihre eigenen Witzchen und ironischen Anspielungen in einer Twitter-Lesung vorträgt. Mittendrin der unvermeindliche Berufszyniker und Szene-Papst Sascha Lobo, dessen erfolgreiche Lobby-Arbeit durch Bücher, TV-Auftritte und auffällige Haararchitektur ihm die vielen Blogger-Bienen ringsum durch grenzenlose Hingabe danken.

Die Twitter-Lesung bei der Neue Medien-Konferenz "re:publica" in Berlin.

Robert Glashüttner

Bei vielen Vorträgen bei der re:publica mit dabei: Die Twitter-Wall.

Nicht ohne meine Community

Abseits der Nabelschau hat die "re:publica" drei Tage lang durch international besetzte Vorträge die Vielfalt des gar nicht mehr so neuen, digital vernetzten Lebens präsentiert: Neben aktuellen Einschätzungen zu gesellschaftlicher und politischer Wirkung von Kommunikation im Web, stehen Kernthemen wie Creative Commons oder Open Source im Mittelpunkt. Technische Inhalte sind bei den Bühnenauftritten eher unterrepräsentiert, was die Zugänglichkeit der Veranstaltung angenehm erhöht. Dafür werden konkrete Themenfelder wie etwa Feminismus oder der Alltag von Behinderten in Bezug auf Blogging in den Vordergrund gerückt und von deren Veränderung durch die Einbettung in Netz-Communites berichtet.

Sexistische Vorwürfe an Feministinnen in einem 5x5-Raster.

Robert Glashüttner

Sexismus-Bingo: Welche Autorin von Mädchenmannschaft zuerst eine durchgehende Linie an dummen Diskreditierungen via Comments findet, gewinnt.

Stars und Spaß

Nur rund ein Drittel der Vorträge werden auf Englisch gehalten, einen Dolmetsch-Service gibt es nicht. Das ist schade, zumal so Stargäste wie Cory Doctorow und Lawrence Lessig wenig vom Angebot der Konferenz mitnehmen können. Der Umfang und die steigende gesellschaftliche Relevanz der Inhalte der "re:publica" mit der Weltstadt Berlin als Austragungsort sollte frei von Sprachbarrieren stattfinden, zumal sich damit das provinzielle Insider-Gezwitschere und andere Nerd-Wursteleien mit Recht zum belangloseren Teil der Veranstaltung wandeln würden.

ORF On Futurezone: Interview mit Markus Beckedahl, einem der Veranstalter der re:publica

Unterhaltsam sollte die Sache natürlich in jeden Fall bleiben - und so gibt es an jedem Tag auch ein Spaß- und/oder Partyprogramm. Neben der bereits erwähnten Twitter-Lesung finden sich darunter amüsante Quiz-Shows (frei nach dem Motto: Wer googlet schneller?) und referenzschwangere Irrheiten aus Österreich.

Publikum bei der Neue Medien-Konferenz "re:publica" in Berlin.

Robert Glashüttner

re:shirt

Und weil zukunftsweisende Konferenzen, die im weitesten Sinne mit Computern und Kommunikation zu tun haben, immer auch ein bisschen (Retro-)Avantgarde versprühen müssen, dürfen knackige Claims und assoziationskräfige Kürzel und Zeichen natürlich nicht fehlen. So laufen wir nach drei Tagen "re:publica" unter der Parole "Shift happens" mit unseren individuell betexteten, frisch gepressten Motto-Leiberln inspiriert in die freundliche Frühlingssonne von Berlin Mitte. Wohltuend, dass sie für eine Weile unsere Handy-Displays blendet und wir uns persönlich für den nächsten Kaffeehaustratsch verabreden.

Textwünsche für individuelle T-Shirts.

Robert Glashüttner

Die re:publica '09 hat von 1. bis 3. April in Berlin stattgefunden. Einen Großteil der Vorträge kann man sich in voller Länge als Webstream ansehen.